"Annas zweite Welt"
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Ich
bin Nora Brand, Journalistin, wohnhaft in Köln-Deutz, 36 Jahre alt und an allen ungewöhnlichen Geschichten und Schicksalen interessiert. Als ich den Anruf von Anna erhielt,
war ich sehr überrascht und erfreut, waren doch seit unserer ersten Begegnung viele Monate vergangen. Damit gerechnet hatte ich nicht, darum musste ich mich erst kurz auf
ihren Namen besinnen.
„Hallo Nora, ich bin´s, Anna, erinnern sie sich noch an mich?“ Annas Stimme klingt unsicher. „Sie haben gesagt, wenn ich soweit
bin und reden möchte, dann soll ich mich bei ihnen melden.“ „Natürlich, Anna, ich freue mich, von ihnen zu hören.“
Anna hab ich kennen gelernt, als ich
eine Freundin in der psychiatrischen Abteilung des katholischen Krankenhauses besuchte. Wegen eines Burnouts verbrachte sie einige Wochen auf der Offenen. Hier kam mir auch
die Idee, von Menschen auf dieser Abteilung zu berichten. Über Nadja versuchte ich, Patienten dafür zu gewinnen, von ihrer Krankheit, und wenn sie dazu fähig waren, mir ihre
Geschichte zu erzählen. Es konnte sehr lange dauern, bis sich jemand dazu bereit erklären würde. Denn es war nicht immer gegeben, dass die Patienten, wenn sie die Klinik
verließen, geheilt waren. Im Vorfeld hatte ich recherchiert, mit welchen Problemen und Krankheitsbildern man es hier zu tun hatte.
„Nadja, was denkst
du, wen könnte ich ansprechen?“, war dann auch meine nächste Frage, nachdem meine Freundin mir in der Cafeteria über ihren Tagesablauf und ihren aktuellen seelischen Zustand
berichtet hatte. „Dort drüben, ganz hinten in der Ecke am Tisch, das ist Anna. Viel weiß ich nicht von ihr, nur dass sie oft allein ist und sehr zurückhaltend. Von jemandem
aus ihrer Gesprächsgruppe hab ich gehört, dass sie wochenlang in einer Psychose gelebt hat.“ „Was meinst du, in was für einer Psychose?“ „Na, genau weiß ich es nicht. Sie
spricht nicht mit Patienten drüber. Sie ist seit zwei Monaten hier. Soll ich sie zu uns bitten?“ „Ja, bitte probiere es, Nadja.“
Als Nadja auf Annas
Tisch zusteuert, beobachtete ich die Szene. Anna scheint sehr nervös zu sein, schaut zu mir herüber, redet dann wieder mit Nadja, sieht sich die anderen Besucher des Cafés an
und folgt dann Nadja zu unserem Tisch.
„Hallo, ich bin Nora Brand“, begrüße ich die schüchterne Frau. Anna mustert mich kritisch, dann scheint sie etwas
ruhiger zu werden. „Anna, Anna von Brem. Hallo Frau Brand.“ „Ist es ihnen recht, wenn wir beim Vornamen bleiben?“, frage ich. „Das ist Okay“, antwortet sie kurz angebunden. Es
entsteht eine kurze Pause, als Anna sich erneut im Raum umsieht,
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und ihr
Blick wird wieder unruhig. „Hat Nadja ihnen gesagt, worum es geht?“ „Sie hat eine Andeutung gemacht.“ „Anna, glauben sie, dass wir zusammenarbeiten und über ihre Krankheit und
ihre Geschichte reden könnten?“ „Was wollen sie mit meiner Geschichte anfangen, in wessen Auftrag arbeiten sie?“, will Anna wissen. Ihr Ton ist voller Misstrauen.
Sie scheint mit der Angst zu kämpfen, und in ihren Augen macht sich Panik breit. „Ich… ich glaube nicht, dass ich das im Moment kann. Wissen sie, das
ist auch eine Frage des Vertrauens. Ich kenne sie nicht, und sie haben keinen blassen Schimmer von mir.“ „Gut Anna, fangen wir anders an. Ich habe vor, eine Story über
Patienten dieser Klinik zu schreiben. Rufen sie mich an, wenn sie bereit sind, mit mir ihr Leben vor, während und nach der Krankheit Revue passieren zu lassen, ist das für sie
akzeptabel? Ich garantiere ihnen, dass nichts öffentlich wird, was sie nicht wollen. Darf ich ihnen trotzdem ein paar harmlose Fragen stellen?“ „Ich antworte ihnen, wenn ich
es für richtig halte“, erwidert Anna kühl.
„Wie alt sind sie, Anna?“ „Ich bin 55.“ Sie sieht mir fest in die Augen. „Haben sie Kinder?“ „Ja, eine
Tochter.“ „Sind sie verheiratet?“ Anna senkt den Blick, und sie schaut sich wieder unsicher im Café um. „Tut mir leid, ich muss gehen, gleich ist Visite“, ist ihre Antwort.
„Hier haben sie meine Telefonnummer.“ Ich gebe Anna meine Karte, dann verlässt sie eilig die Cafeteria.
„Sie scheint Angst vor etwas zu haben“, denke
ich laut. „Nora, du musst sie verstehen, sie ist nicht ohne Grund hier, die Symptome können noch immer da sein, vielleicht ist sie traumatisiert von dem, was sie erlebt hat.“
„Was weißt du noch, Nadja, du weißt doch mehr, als du preisgeben willst?“ „Mehr kann und will ich nicht über Anna sagen. Nur, dass sie von ihrem Mann getrennt ist, das ist
alles, was ich über ihre Situation weiß.“
Ich gebe mich zufrieden mit dem, was ich über Anna erfahren habe und hoffe darauf, dass sie eines Tages den
Weg zu mir findet. Mit Nadja trinke ich noch einen Cappuccino und mache mir einige Notizen über den Klinikalltag, den mir meine Freundin ausführlich schildert.
„Wie geht es ihnen, Anna?“ Ihre Antwort ist ausweichend. „Ich habe mich entschlossen, mich ihnen so gut es geht zu öffnen. Ich werde ehrlich
sein, und es wird sicher nicht leicht für mich.
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Doch ich erwarte auch etwas
von ihnen. Sie müssen mit mir Orte besuchen, die für mich wichtig sind. Und ich möchte, dass sie versuchen, sich in mich hinein zu versetzen, um mich zu verstehen. Wann und wo
können wir uns treffen?“
Annas Offensive irritiert mich ein wenig, ist das noch die gleiche Person, der ich vor Monaten in der Klinik begegnet bin?
„Schlagen sie etwas vor, Anna“, lasse ich ihr den Vortritt. „Kennen sie das Café Reichard?“ „Gute Wahl, Anna.“ „Morgen um 15.00 Uhr im Tee Salon?“ „Ich werde da sein.“ „Bis
Morgen dann, Nora.“ Bis Morgen, Anna.“
Anna hat ein Notizbuch mitgebracht, das sie jetzt vor sich auf den Tisch legt. „Guten Tag, Nora. Nur damit ich
nichts vergesse.“ Anna lächelt etwas verlegen und zeigt auf das kleine Buch.
In ihrem Blick liegt nicht mehr die Panik wie vor einigen Monaten. Sie
wirkt selbstbewusst und ruhiger. Wir bestellen Kaffee und Kuchen. „Eigentlich ist Kuchen für mich tabu“, meint Anna und deutet auf ihren Bauch. „Der ewige Kampf mit den
Kilos.“ „Geht es ihnen besser, Anna?“ „Das ist sehr unterschiedlich. Es ist viel geschehen in der Zwischenzeit. Wo wollen wir beginnen, Nora?“
„Warum
waren sie in der Klinik, Anna?“, presche ich jetzt ohne lange zu überlegen vor. Anna zögert noch, sie streicht mit der Hand eine Strähne ihrer rot getönten Haare aus dem
Gesicht. Sie ist dezent geschminkt und Ihre blau – grauen Augen mustern mich kritisch.
„Es waren 3 Monate. Psychotische Störungen, Wahnvorstellungen,
Halluzinationen.“ „Was war der Grund?“ „Bis heute kann mir niemand den Grund sagen, keinen genauen Grund. Vielleicht eine große psychische Belastung, das ist nur meine
Vermutung.“ „Was ist davor passiert?“ Meine angeborene Neugier bahnt sich jetzt ihren Weg nach außen und ich habe 100 Fragen an die Frau, die mir bereitwillig Auskunft über
ihr Leben gibt. „Ich habe mich verliebt.“ Annas plötzliches Geständnis überrascht mich. Es ist ihr ernst mit ihrer Offenheit mir gegenüber, und ich will sie auf keinen Fall
unter Druck setzen, indem ich sie mit Fragen bombardiere.
„Es spielt keine Rolle, in wen. Es ist einfach so passiert. Sie werden jetzt sicher denken,
meine Güte, eine Frau in dem Alter. Gesagt hat es nie jemand, doch manchen Leuten sieht man ihre Gedanken an.
Irgendwann wurde mir klar, dass dieses
Gefühl so stark war, dass ich es nicht mehr ignorieren konnte. Ich bin aus meiner Ehe ausgebrochen, habe Menschen die mir lieb
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waren verletzt. Ich wusste 34 Jahre lang nicht, dass ich es jemals könnte. Ich weiß selbst nicht, wann es angefangen hat
mit den Wahrnehmungsstörungen.“ Anna macht eine Pause, trinkt von ihrem Kaffee und stochert in ihrem Kuchenstück herum.
Wie gebannt hänge ich an ihren
Lippen und merke mir jede Regung in ihrem Gesicht. Ich warte geduldig, bis sie weiterredet. „Es war das Härteste, was ich jemals getan habe. Es war ein Schlachtfeld, und
wissen sie Nora, ich glaube, ich habe mich am stärksten getroffen damit. Ich habe mir eine Wohnung gesucht, war wie berauscht von diesem Gefühl, wieder etwas zu spüren vom
anderen Leben.“ Anna lächelt jetzt beseelt. „Dieses Gefühl kann man nicht in die Knie zwingen, man ist machtlos dagegen. Ich weiß nicht, ob sie das nachempfinden können.“
Ich unterbreche Anna nicht in ihrem Redefluss und versuche mir vorzustellen, wer ihr sonst so normales Leben so aus dem Lot gebracht haben mochte, dass
sie alles aufgegeben hat. „Nora, sie glauben nicht, welche Wohnungen man mir angeboten hat. Sie würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.“ Anna schildert mir den
katastrophalen Zustand, in dem manche Immobilien an den Mann oder besser gesagt, an die Frau gebracht werden sollen. „Die denken, dass sie es mit dir als Frau machen können
und deine Not so groß ist, dass du auf all ihren Mist hereinfällst. Entschuldigung, Nora, ich weiche vom Thema ab.“ „Ist schon gut, Anna, ich habe Zeit. Erzählen sie alles,
was ihnen auf der Seele brennt.“
„Als ich meine Sachen gepackt habe, das war schwer. Ich habe geweint. Ich habe immer allein geweint, Nora.“ Jetzt
schießen Anna plötzlich die Tränen in die Augen. Doch sie hält sie zurück, sie will sich wohl keine Blöße vor mir geben. „Anna, sollen wir aufhören für heute?“, frage ich sie,
obwohl ich brennend an weiteren Informationen interessiert bin. „Es ist nur ein kleiner Schritt, Nora. Ein kleiner Schritt. Sie merken es nicht, wenn sie in die andere Welt
wechseln. Es ist ihnen nicht bewusst. Das Fatale ist, dass sie die andere Welt annehmen und sie ihnen gefällt.“
„Anna, ich schlage vor, wir gehen ein
wenig an die frische Luft. Sie brauchen eine Pause. Sie sind sehr aufgeregt. Ich möchte nicht, dass es ihnen wieder schlecht geht.“ „Okay, Okay, sie haben Recht,
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Nora. Machen wir Schluss.“ Wir laufen noch ein wenig zusammen am Rheinufer
entlang, und Anna erzählt von ihrer Tochter. Dann verabreden wir uns für den nächsten Tag um die gleiche Uhrzeit im Café Reichard.
Anna ist nicht gekommen. Sie hat mich angerufen, als ich schon im Café auf sie gewartet habe. „Ich kann nicht rausgehen, nicht allein. Es tut mir Leid, Nora.“ „Ich
kann sie abholen, wenn sie wollen, Anna“, biete ich ihr an. Nach kurzem Zögern willigt sie ein.
„Danke, Nora, dass sie sich die Mühe gemacht haben.“
„Oh, es ist keine große Sache für mich, Anna.“ Annas Augen sehen verweint aus. Sie setzt sich eine Sonnenbrille auf, als wir das Café betreten. „Wo machen wir weiter?“ Anna
will mir also nicht sagen, warum sie nicht herkommen wollte. Ich dränge sie nicht dazu, will keinen Fehler machen, damit sie unsere Treffen nicht absagt.
„Wollten sie nicht mit mir einige Orte aufsuchen?“, frage ich mutig. „Gut, können wir mit der Bahn fahren?“ „Wenn ihnen das lieber ist, kein Problem“, antworte ich.
Anna sitzt mir gegenüber. „Alles hat gut funktioniert. Einige Wochen verbrachte ich in einer Art Hochstimmung. Dann kam es zum Eklat. Ich habe mich zuerst gedemütigt gefühlt,
klein gemacht. Am eigenen Leib bekam ich nun zu spüren wie es ist, verletzt zu werden. Meine Gefühle, meine Gedanken, alles war komplett durcheinander geraten. Und dann war
auf einmal alles ganz klar, und ich glaubte zu verstehen. Keinen Kontakt mehr, Hinweisen nachgehen und immer wieder nach Lösungen suchen, die mich an einen geheimen Ort
bringen würden. Ich begebe mich auf die Suche nach ihm. Die Odyssee beginnt.
Ich sitze im Zug zwei jungen Frauen gegenüber, denen ich folgen soll. Die
Zeit verstreicht, und endlich fährt der Zug ab. Wir fahren in die Nachbarstadt, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde, oder eine Stunde? Ich habe kein Gefühl für die Zeit.“
Anna nimmt ihre Sonnenbrille ab. Neben ihr sitzt ein junger Mann, der in einem Taschenbuch liest. Doch ich merke, dass er ihre Schilderung genauso gespannt verfolgt wie ich.
„Der Zug hält. Die Frauen steigen aus. Ich folge ihnen ein Stück. Über mein Handy erhalte ich weitere Instruktionen.“
„Anna, wie muss ich mir das
vorstellen?“ „Nun, Werbung, Nachrichten, Wegbeschreibungen für Möbelhäuser, Berichte und Zahlenreihen. Mein Ziel ist eine Wohnsiedlung. Nora, wir müssen hier aussteigen.“ Der
junge Mann schaut
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enttäuscht auf und wirft Anna einen interessierten Blick
zu. Sie lächelt ihn an, was ihn in Verlegenheit bringt. Er sieht ihr hinterher, als wir aussteigen.
„Ich laufe hinter einem Pärchen her, das einen
Kinderwagen schiebt. Der Weg führt hierher. Ich kenne diesen Stadtteil nicht. Aber ich finde die Siedlung.“ Ich stehe mit Anna an der Stelle, von der aus sie das Haus
beobachtet, in dem sie ihn finden soll. „Stundenlang laufe ich hier an der Straße hin und her, traue mich aber nicht, an der Haustür anzuschellen. Als ich mich dem Haus
nähere, um einen Blick über den Zaun zu werfen, erscheint der Nachbar, dessen Grund und Boden ich betrete.“ Unauffällig deutet Anna auf das Nachbargrundstück. „Der Mann ist
sehr misstrauisch und hat mich wohl schon die ganze Zeit über beobachtet. Wenn sie nicht bald verschwinden, hole ich die Polizei, droht er. Wir sollten lieber weitergehen,
Nora. Wahrscheinlich schaut er gerade wieder zu uns herüber.“
Unser Weg führt die Straße hinab in eine Sackgasse. „Hier ist eine kleine Baustelle. Auf
einer Planierraupe stehen Zahlen, die ich zu einer Telefonnummer zusammensetzen muss. Wie lange ich an dieser Stelle stehe, weiß ich nicht. Es gelingt mir nicht, eine
Verbindung herzustellen. Der Nachbar, der mich so schroff von seinem Grundstück vertrieben hat, kommt erneut schimpfend auf mich zu. „Was machen sie denn noch immer hier?“ Ich
fange an zu weinen und stelle mich mit dem Gesicht zu dieser Garage, um den unwirschen Mann nicht ansehen zu müssen.
Eine junge Frau kommt jetzt auf den
Nachbar zu. „Papa, was ist los?“, fragt sie ihn. Sie redet besänftigend auf ihn ein, dann beschließen sie, die Polizei zu benachrichtigen. Einige Zeit später sitze ich in dem
Streifenwagen. An der Stadtgrenze werde ich einem Zwillings-Polizistenpaar übergeben. Die Männer scherzen mit mir und behandeln mich freundlich, und ich werde am späten Abend
vor meiner Wohnung abgesetzt. An viele Fragen der Ordnungshüter kann ich mich nicht erinnern.“
„Anna, haben sie von dem Grund ihrer Suche etwas zu den
Beamten gesagt?“, möchte ich jetzt wissen. „Nein, das habe ich nicht getan. Es war eine geheime Mission. Verstehen sie, niemand durfte davon erfahren.“ Schweigend fahren wir
zurück nach Köln. Noch schaffe ich es nicht, die Ereignisse mit Annas Augen zu sehen. Aber ich bin sicher, dass es mir gelingt, irgendwann.
Heute ist Anna mit mir zu ihrer damaligen Wohnung gefahren. „Wie oft ich hier herumgelaufen
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bin, hab ich nicht gezählt. Es müssen mehr als zwei Wochen gewesen sein. Ich sehe aus dem Fenster zur Geschäftsstraße hinaus.
Mitten in der Einkaufszone steht ein dunkler BMW. Die Warnblinkanlage ist eingeschaltet. Schnell nehme ich meine Jacke, Tasche, Schlüssel und Handy und renne die Treppen
hinunter, raus auf die Straße. Niemand sitzt in dem Auto. Ich gehe ins Geschäft und frage, wo der Fahrer des Wagens ist. Keiner kann mir antworten. Du musst dich nur
hineinsetzten, sagt mir mein Unterbewusstsein. Ich gehe zurück in die Wohnung. Als ich wieder aus dem Fenster schaue, ist der Wagen verschwunden. Unendliche Traurigkeit
überfällt mich. Ich versage ständig, komme nicht ans Ziel. Er wartet auf mich und ich finde nicht den Weg zu ihm.“
Anna erzählt von weiteren
Begebenheiten und Ausflügen, die sie in Schwierigkeiten gebracht haben. In einem Einkaufscenter erteilte man ihr Hausverbot. Über die Gründe kann sie auch jetzt noch nicht
sprechen, vielleicht später einmal, stellt sie mir in Aussicht.
Am nächsten Tag legt Anna einen Stapel lose Blätter auf den
Tisch. Mein fragender Blick scheint sie zu amüsieren. „Das sind meine Gespräche. Sie haben meinen Computer lahmgelegt. Ich habe auf diese Zettel geschrieben, wenn ich
zurückkam von den Ausflügen und als ich beschloss, nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Dann habe ich sie in die Kamera gehalten.“
Ich hake jetzt nach,
weil ich Anna nicht ganz folgen kann. „Welche Kamera, Anna?“ „Die in meiner Wohnzimmerlampe. Es waren in jedem Zimmer welche installiert, auch im Bad, das glaubte ich
jedenfalls damals. Nora, sie sind die Erste, die sie lesen darf, sonst hatte noch niemand Interesse daran. Ich glaube, dass sie es nicht wollen, vielleicht erschreckt es die
Leute. Bitte lachen sie nicht, die Gespräche sind, wie soll ich sagen, schockierend, lustig, traurig und auch ein wenig intim. Ich vertraue ihnen mittlerweile, Nora. Wenn sie
wollen, können sie die Blätter mit nach Hause nehmen und lesen. Möglicherweise sind sie der Schlüssel zum Verstehen, wie es damals um mich bestellt war.“
Sie sieht mich jetzt prüfend an. „Wenn ich sie damit überfordere, sagen sie es ruhig. Es war nur ein Vorschlag von mir. Nora, kommen sie mit mir überhaupt klar? Sie
sind so still geworden?“ „Oh, nein. Ich will sie nur nicht unterbrechen. Das ist alles“, versichere ich ihr.
Ich werfe einen kurzen Blick in die
Blattsammlung. Am Anfang sehe ich nur Telefonnummern und zusammenhanglose Notizen. Es sind mindesten 50 Seiten, mal einseitig, mal beidseitig
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beschrieben. Einige Aufzeichnungen lese ich durch. Die Zeilen sind handgeschrieben, ihr Inhalt
wäre eine wahre Fundgrube für Psychotherapeuten und Psychologen. Anna hat mich beobachtet und meine Reaktion studiert.
„Und, reicht das Material für
eine gute, verrückte und spannende Geschichte?“, fragt Anna mit einem leichten Schmunzeln. „Anna, das hier ist nicht lachhaft oder spaßig.“ „Sie meinen, weil ich darüber
amüsiert bin? Da haben sie Recht. Man kann schon die Dramatik dahinter erkennen. Aber sie werden genau wie ich am Schluss darüber lächeln. Ich bin deshalb sehr gespannt auf
ihre Meinung.“ Wir reden noch ein bisschen über Annas jetzige Lebenssituation, dann verabreden wir uns für den folgenden Samstag im Café am
Dom.
Bis spät in der Nacht arbeite ich mich durch Annas Tage- und Nachtbuch, jeden einzelnen Satz lese ich mir laut vor. Ich
notiere mir Fragen, die ich Anna dazu stellen will.
Wir sitzen wieder zusammen bei einem Kaffee, und Anna beginnt das Gespräch.
„Ich möchte etwas vorweg nehmen, Nora. Zuerst habe ich gedacht, dass man davon loskommt, von den Gedanken, von den Gefühlen, von den Erinnerungen. Das war ein Irrtum. Man muss
immer wieder daran arbeiten auf irgendeine Art und Weise. Wenn du es nicht tust, zerfrisst es dich innerlich. Du musst dich mit allen Dingen, die dir wichtig sind,
auseinandersetzen. Ich habe vieles geklärt, was mich lange belastet hat, brauche keine Betreuung und hab mein Leben soweit wieder im Griff, niemand macht mir Vorschriften oder
verbietet mir etwas.
Und, haben sie noch Fragen, Nora?“ „Ja, als erstes die Frage, ob sie glücklich waren in dieser Zeit.“ „Die Frage nach dem Glück,
die ist in der letzten Zeit sehr oft gestellt worden, war sozusagen das Thema schlechthin. Ich war glücklich, weil ich nicht allein war.“ „Anna, hat sie nie jemand besucht?
Ich meine, es muss doch jemandem aufgefallen sein, dass mit ihnen was nicht in Ordnung war?“
„Besuch hatte ich einmal von der netten Nachbarin. Sie hat
mir Kuchen gebracht und sich für meine Bilder interessiert. Er hat sie zu mir geschickt, damit sie ihm berichten konnte, wie es mir geht. Eine Freundin hat er beauftragt, mir
einen Korb mit alkoholfreiem Sekt und Lebensmitteln zu bringen. Er hat gut für mich gesorgt." „Das haben sie geglaubt, ich hab es gelesen.“
„Interessant nicht, Nora?“ Über Annas Züge huscht wieder ein Lächeln. „Anna, diese Zwiegespräche, sie haben sich ständig selber die Antworten gegeben. Andauernd haben sie sich
kritisiert, sich als dumme Person dargestellt. Sie haben sich schuldig gefühlt, weil alle ihre Bemühungen ihn zu finden, gescheitert sind.“ „An ihnen ist ein Psychiater
verloren gegangen, Nora.“ Anna blättert in dem Papierberg und zieht eine Seite heraus. „Ja, hier, ich habe mich selber immer wieder an den Haaren aus
den
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Tiefs gezogen. In der akuten Phase war das ganz schön kritisch. Wir
haben alles versucht, es ging immer schief. Wenn ich aus der Haustür gegangen bin, dann fing die Show an. Die Frau mit dem Hund geht los, nur so ein Beispiel. Ich folge ihr,
dann wird sie von einem Mann mit der Kappe abgelöst. Es ging immer so weiter. Oft bin ich Zwei- dreimal unterwegs gewesen. Immer mit dem gleichen Ergebnis. Alles zwecklos. Ich
will aufgeben. Alles steht hier drin, Nora. Ich brauche ihnen nichts mehr erklären.“
„Ja, Anna, es steht alles da drin.“ Anna fängt urplötzlich an zu
lachen. „Einmal hab ich ihm angedroht, ihn zu heiraten. Gott, was war da nur los mit mir? Wie geht es nun weiter, Nora?“, möchte Anna wissen. „Wie stehen sie dazu, Anna?
Denken sie, dass wir einige Passagen daraus in die Story einfließen lassen können?“
„Aber bitte nur die witzigsten, das sind eine ganze Menge.“ „Anna,
sie haben jede Menge schwarzen Humor.“
„Lieber mit schwarzem Humor an alles rangehen, als es zu dramatisieren. Es ist vorbei, irgendwann werde ich das
Tagebuch vernichten, also lassen sie uns die Story des Jahrhunderts schreiben. Wie soll der Titel lauten, Nora? Ich hätte da einen Vorschlag. Wie wäre es damit: "Annas zweite
Welt – Gespräche mit einem Unsichtbaren.“
Anna versteht es, sich selbst nicht so ernst zu nehmen und alles hinter einer Fassade
der Heiterkeit zu verstecken. In der Zeit unserer Zusammenarbeit hab ich mich an ihre Aufs und Abs gewöhnt. So bezeichnet sie die plötzlich auftretenden depressiven Zeiträume,
die sie still und unzugänglich machen. Ihre Verschlossenheit zwingt uns dann zur Unterbrechung der Sitzungen, so nennt Anna unsere Unterhaltung gerne.
Manchmal sind es nur Minuten, in denen sie ihren Gedanken nachhängt, ein anderes Mal müssen wir unser Treffen beenden, weil die Bilder der Vergangenheit sie nicht loslassen.
„Nora, ich merke, dass sich immer mehr in mir ordnet. Wissen sie, ich hab nur Angst, dass man mich als hoffnungslose Psychopatin ansieht, als jemanden, den man nicht los wird.
Aber so ist es nicht. Ich glaube nur, etwas gut machen zu müssen, das ist es, was mir nicht aus dem Kopf gehen will. Aber es wird besser, allmählich. Ich hatte nie die
Absicht, jemanden zu belästigen, zu schaden oder auszunutzen. Mir ist erst jetzt, nachdem ich meine Briefe noch einmal gelesen habe bewußt geworden, wie sehr ich ihn damit
genervt haben muss, und er hat es ausgehalten. Eigentlich bin ich das gar nicht. Irgendwie ist eine psychische Abhängigkeit entstanden, damals. Genau erklären kann ich es
nicht, ich bin ja keine Therapeutin.“
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Annas Stimme ist fest, als sie
zum ersten Mal mit mir über ihre Ängste spricht. Ich habe das Gefühl, dass wir ein Stück weiter gekommen sind und Anna ihren damaligen Zustand messerscharf analysiert hat.
„Wir sollten jetzt mit dem Tagebuch weitermachen, Nora, dann haben wir wenigstens ein bisschen Comedy, Herzkino und Drama in
einem.“
„Anna, überlegen sie es sich bitte genau. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich gut für sie ist, diese Phase noch einmal so intensiv zu durchleben.
Natürlich ist das eine Art von Verarbeitung der Dinge, die sich in ihrem Inneren abgespielt haben. Dennoch sind es sehr persönliche und doch auch zum Teil schmerzvolle
Erfahrungen.“
Annas Gesichtsausdruck wird wieder ernst. Sie öffnet ihre Tasche und zieht eine Packung Zigaretten heraus. „Können
wir uns nach draußen setzen?“ Ich willige ein, denn die Sonne hat noch viel Kraft an diesem Oktobertag, und der Wind weht warme Luft in unsere Gesichter. „Ich hab`s mir wieder
angewöhnt, dummerweise.“ „Und ich hab damit aufgehört mit Hypnose“, antworte ich und muss mich zusammennehmen, damit ich Anna nicht um eine Zigarette bitte. „Und das
funktioniert?“, will sie jetzt interessiert wissen. „Es hat mich jedenfalls einen Haufen Geld gekostet, dann muss es auch gelingen. Bis jetzt konnte ich wiederstehen, mit
eisernem Willen geht alles.“
„Das ist mit Süßigkeiten nicht anders, da braucht man eine gehörige Portion Selbstdisziplin“, gibt Anna zu.
Wir beobachten eine Weile die vorübergehenden Passanten und genießen die noch so wohligen Sonnenstrahlen.
„Also gut, einverstanden. Lassen wir
es dabei bewenden, dass es dieses Tagebuch gab. Wenn ich zu Hause bin, werde ich die Blätter in den Reißwolf geben. Ich brauche sie nicht mehr. Mir fallen bestimmt noch einige
Episoden ein, die sie für ihren Artikel verwenden können.“
„Anna, wie geht es ihnen heute?“ „Das ist von mehreren Faktoren abhängig, Nora. Oft ändert
sich die Stimmung von einer Minute auf die andere, Lebensfreude wechselt sich ab mit Trübsal und Niedergeschlagenheit. Mit allen Mitteln versuche ich, dagegen zu steuern. Doch
es gelingt mir nicht immer. Manchmal sitze ich nur da, denke an nichts und vergieße ein paar Tränen. Das Gefühl, nicht mehr wahrgenommen zu
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werden, stellt sich mehr und mehr ein. Aber genug jetzt mit der Jammerei. Sie müssen sich
fürchterlich langweilen mit mir. Leider werde ich ihnen nichts Spektakuläres bieten können. “ „Es ist keineswegs langweilig, Anna. Wollen sie mir von ihrem Leben vor ihrer
Erkrankung erzählen?“ „Da muss ich kurz mal nachdenken. Möchten sie einen Lebenslauf von mir haben?“ „Reden sie frei von der Leber weg. Jeder Mensch hat eine Geschichte, und
hinter jeder Geschichte verbirgt sich ein Mensch.“
Anna schaut mich groß an. „Haben sie etwa auch Psychologie und Philosophie studiert, Nora? Soviel
Bildung macht mich ganz unsicher.“
„Nun, ich habe mehrere Vorlesungen in diesen Fächern besuchen können. Das kommt mir bei meiner eigentlichen Arbeit
zugute.“ „Sie haben sich noch einige Fragen notiert. Schießen sie los. Ich werde wahrheitsgemäß antworten, sofern sie nicht die Grenzen der Privatsphäre überschreiten und mir
oder Anderen schaden könnten.“
„Anna, haben sie damals Drogen konsumiert, die ihre Krankheit zum Ausbruch gebracht haben könnten?“ Anna steckt sich eine
weitere Zigarette an. Ich atme den Rauch, den der Wind in meine Richtung treibt, tief ein. „Welche Drogen meinen sie, Nora?“ „Kokain, Gras, LSD, Ecstasy, alles, was man sich
auf einfache Weise beschaffen kann.“ „Mit nichts von alledem bin ich jemals in Berührung gekommen. Das Glas Wein jedoch war an vielen Abenden mein Begleiter. Es hat mir
geholfen, den Druck der Arbeit zu ertragen, die ständige Übelkeit, durch Medikamente verursacht, zu betäuben. Lange Zeit habe ich mich zurückgezogen in meine Welt, in die ich
eingetaucht bin und die Isolation und Einsamkeit zur Folge hatte. Ich gehörte dann auch zu denjenigen, denen sich der Arbeitgeber zuerst entledigte, indem er sie, in
Anbetracht einer drohenden Insolvenz, in die Kurzarbeit entließ. Das bedeutete einerseits dem ständig wachsenden Druck entkommen zu sein, andererseits sehr viel Freizeit zu
haben. Das Berufsleben hatte sich endgültig von mir und vielen Kollegen verabschiedet, der Wein blieb mir jedoch treu. Wahrscheinlich habe ich mich bereits zu dem Zeitpunkt
schon in der zweiten Welt bewegt. Aber ich glaube nicht, dass der Wein der Auslöser war. Weder die Klinikärzte, noch der Neurologe konnte mir die Gründe nennen. Heute rühre
ich keinen Alkohol mehr an, weil ich spezielle Medikamente einnehmen muss. Ich vermisse ihn nicht, denn ich habe nichts mehr, was ich damit betäuben müsste. Meine Hobbys
ersetzen jetzt die Arbeitswelt.“
„Nora, vermissen
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sie ihren Beruf?“ „Ich vermisse bestimmte Anforderungen, Bestätigung und Anerkennung in meiner jetzigen Situation. Verstehen sie, Menschen, mit denen sie nicht nur
zusammengearbeitet haben, sondern die auch sozialen Kontakt bedeuteten, sind plötzlich von der Bildfläche verschwunden, das geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Das ist ein
großes gesellschaftliches Problem, es betrifft so viele Leute.“
„Anna, ich denke, das reicht für heute. Hat sie das Reden angestrengt oder auf die
Stimmung gedrückt?“ „Keine Sorge, Nora. Es geht mir gut, für den Moment. Der Kaffee und der Kuchen gehen auf meine Rechnung.“
Anna lächelt den
attraktiven Kellner an, der ihr die Rechnung auf einem Tablett serviert. Seine neugierigen Blicke zu unserem Tisch sind nicht nur mir aufgefallen. Dann gibt sie ein
großzügiges Trinkgeld und verabschiedet sich von ihm mit dem Versprechen, dass er uns schon bald wiedersehen wird.
„Er hat ein Auge auf sie geworfen,
Nora, und er erinnert mich an jemanden.“ Annas Feststellung bringt mich ein bisschen aus dem Konzept und macht mich gespannt auf unsere nächste
Verabredung.
„Nora, sind sie noch Single?“ „Wieso möchten sie das wissen, Anna?“ „Ich würde gerne auch etwas über sie erfahren,
wegen ihm.“ Anna deutet mit einem Seitenblick auf den Kellner, der auch heute wieder im Café seiner Arbeit nachgeht. „Sehen sie, er flirtet mit ihnen.“
Ich blicke möglichst unauffällig zu der Theke, an der er Tabletts mit Kaffee vorbereitet. Tatsächlich winkt er mir jetzt freundlich zu. Dann serviert er den Kaffee am
Nebentisch und kommt sogleich zu uns, um unsere Bestellung aufzunehmen. „Ich kann den Damen heute besonders guten Kuchen empfehlen. „Danke, für mich nicht, Diät“, gibt Anna
ihm schmunzelnd zu verstehen. „Aber Nora, sie können doch ein Stück vertragen.“ „Der Meinung bin ich auch, wenn ich das so sagen darf.“
Der Kellner
durchschaut Annas Absicht, zwischen ihm und mir einen Kontakt herzustellen. „Wir haben Käsekuchen, Mandarinensahne und Mohnschnitten, dann noch Obstboden und Gugelhupf.
Welchen darf ich ihnen bringen?“ „Dann bitte ein Stück Obstboden mit Sahne“, antworte ich und schaffe es ebenfalls, ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen.
Mit einer kurzen Verbeugung, einem „Sehr gerne“ und einem vielsagenden Blicke auf mich, macht er eine Kehrtwende und sprintet regelrecht zu seiner Kuchentheke.
„Da geht was,
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Nora, gefällt er ihnen?“ Annas
Direktheit überrumpelt mich ein bisschen, und ich weiß gar nicht, was ich erwidern soll. „Also, sind sie Single?“ „Ja, Anna. Das bin ich. Und ja, er hat das gewisse Etwas.“
„Ich nenne es das Kellner-Gen, Nora. Gleich wird er sie in ein Gespräch verwickeln.“
Mir ist die Situation etwas peinlich. „Anna, kann ich ihnen noch
ein paar Fragen stellen?“ „Natürlich, dafür sind wir ja hier zusammengekommen.“ „Was war der Grund für ihren Eklat, wie sie es nennen?“ „Ich hab nichts Böses getan aus meiner
Sicht. Ich habe nur das Falsche getan, und ich habe die Antworten nicht verstanden. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Annas gute Stimmung scheint jäh ins
Gegenteil umzuschlagen. „Ist alles in Ordnung, Anna?“ „Es war nur die Erinnerung daran, so stark, als wäre es soeben erst geschehen.“
Ich habe noch so
viele Fragen, die ich Anna stellen möchte, warte aber damit, bis wir unseren Kaffee bekommen. „Haben die Damen sonst noch einen Wunsch? Darf ich fragen, ob sie von hier sind?“
Anna freut sich darüber, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hat. Jan, so steht es auf dem Namensschild, das mir erst jetzt aufgefallen ist, hat wahrhaftig Interesse
an uns. „Ja, wir leben beide hier in Köln. Nora macht mit mir ein Interview für einen Zeitungsartikel“, antwortet Anna ohne zu zögern. „Aha, etwas Ähnliches habe ich mir schon
gedacht, weil sie so eifrig mitschreiben.“ „Nora ist Journalistin“, übernimmt Anna weiter die Gesprächsführung, als sie merkt, dass ich Jan gegenüber völlig gehemmt
bin.
„Haben sie Zeit, sich später zu uns zu setzen?“ „Wenn es auch Nora nichts ausmacht? In einer halben Stunde habe ich Feierabend.“ Meine Antwort ist
kurz, denn ich bin erstaunt über Annas geschickten Kuppelversuch. „Ja, warum nicht?“ Jan steht die Begeisterung augenblicklich ins Gesicht geschrieben.“ „Na, dann bis gleich
die Damen.“
„Nora, war das auch in ihrem Sinn?“ „Hätten sie sich davon abbringen lassen, Anna?“ Anna muss lachen „Ich glaube nicht, Nora. So, bitte die
nächste Frage“, fordert sie mich immer noch lachend auf.
„Anna, was hat sie damals so sehr an ihm beeindruckt?“ „Ich versuche, es ihnen zu beschreiben,
Nora. Haben sie das schon mal erlebt, dass jemand ein Lächeln in einer E-Mail versendet? Ein Lächeln, das ihnen nicht mehr aus dem Kopf geht und das ihnen Herzklopfen
beschert? Nur ein paar Worte, und sie sind bereit, ihr ganzes Leben umzukrempeln?“
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In Annas Augen tritt jetzt ein unübersehbarer Glanz. „Anna, haben sie daran geglaubt, dass er zu ihnen kommt?“ „Ich habe es
mir gewünscht, geradezu darum gebettelt.“ „Denken sie, dass es mit ihnen dann nicht soweit gekommen wäre?“ „Das ist schwer zu sagen. Nora, ich habe wunderschöne Tage erlebt,
weil er mir meine Illusion gelassen hat, jemandem etwas zu bedeuten ,und er hat mir zugehört. Ich weiß, das klingt überheblich und selbstsüchtig, aber ich bin sicher, dass
jeder Mensch danach strebt. Im Nachhinein weiß ich, dass ich ihm viel abverlangt habe. Nora, wir, das heißt, eigentlich ich, habe mit ihm gestritten, ich war panisch, weil ich
ihn nicht verlieren wollte, nicht auch noch ihn verlieren wollte, obwohl ich ihn nie besessen habe. Können sie mir noch folgen, Nora?“ „Ja, ja sicher. Es geht
schon.“
Um Annas Ausführungen zu verstehen, bedarf es meiner ganzen Aufmerksamkeit. Für einen kurzen Moment bin ich von Jan abgelenkt, der den Gästen am
Nachbartisch den Kaffee bringt. Mit den Fingern einer Hand macht er mir klar, dass er in fünf Minuten bei uns ist. Jan hat dunkles Haar, ein hübsches markantes Gesicht und
dunkle mandelförmige Augen, die von ein paar Lachfältchen umgeben sind.
„Sein Haar sieht weich aus, und sein Mund wirkt ausgesprochen erotisch“, stellt
Anna fest. Sie muss meine Gedanken erraten haben, und ich fühle mich ertappt. „Wie alt schätzen sie ihn, Nora?“ „Oh, darin bin ich nicht sehr gut. So etwa 45.“ „Ja, das müsste
hinkommen. Wir werden ihn gleich fragen, Nora.“
Anna schmunzelt, als sie mein entsetztes Gesicht sieht. „Keine Angst, das war nur ein Scherz. Ich
denke, ich werde sie jetzt allein mit ihm lassen, Nora.“ „Mich stört es nicht, wenn sie bleiben, Anna.“ „Gut, ein paar Minuten, dann räume ich das
Feld.“
Anna hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Ihre Wohnungseinrichtung ist zeitlos modern, und an den Wänden hängen von ihr
selbst gemalte Bilder. Wir trinken Kaffee, und Anna hat mir ein Stück Käsekuchen dazugestellt. Ohne viel Vorgeplänkel stellt Anna jetzt mir die Fragen.
„Wie hat sich die Sache entwickelt zwischen Jan und ihnen?“ „Als sie gegangen sind, haben wir noch über unsere Berufe geredet. Jan ist Schriftsteller, deshalb war er so an
unserer Arbeit interessiert. Ja, und auch an mir, muss ich gestehen. Den Kellner Job macht er, weil ihm im Moment noch der große Erfolg fehlt. Für ihn ist das aber auch eine
schöne Abwechslung, hat
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er behauptet. Um die Menschen um sich herum zu
studieren, gibt es nichts Besseres, sagt er.“ „Und wie ging es weiter, ich meine beziehungsmäßig?“ „Das braucht seine Zeit, Anna“, erwidere ich leicht errötend. „Warten sie
nicht zu lang, Nora. Schlagen sie zu, wenn es sich lohnt. Er ist ein sehr charmanter Plauderer, habe ich festgestellt.“
Damit Anna mich nicht nochmal
mit Jan aus dem Konzept bringt, stelle ich ihr die letzten Fragen von meiner Liste. „Anna, warum sollten sie keinen Kontakt mehr zu ihm haben?“ „Er musste seine
Familienverhältnisse klären. Solange galt die Kontaktsperre, es war zu gefährlich, ich habe das durch irgendwelche Berichte so erfahren. Das habe ich auch meinen Verwandten
gesagt. Ich habe ihnen die unglaublichsten Geschichten erzählt, zeitweise war ich sicher, in ein Agentenabenteuer geraten zu sein, es war meine Realität. Für mich ist eine
Welt zusammengebrochen, als man mir sagte, er existiert nicht, existiert nicht für mich. Ich habe das damals überhaupt nicht verstanden, ich habe es so
hingenommen.“
„Anna, hatten sie Freunde, mit denen sie darüber reden konnten?“ „Ja, ich habe einer Freundin davon geschrieben.“ „Was haben sie ihr
geschrieben?“ „Na, das mit den Familienverhältnissen und dass ich ihm gehörig zugesetzt habe. Ich muss heute noch lachen darüber. Sie hat unsere Beziehung eine Luftnummer
genannt. Es gibt so viele Männer, die eine nette Partnerin suchen, hat sie zurückgeschrieben. Sie hatte keine Chance, ihn mir auszureden. Niemand würde Anna von Brem so
einfach aus ihrer zweiten Welt herausholen. Er tut mir heute so Leid, weil ich ein bisschen die Grenzen überschritten habe, aber ich habe alles genauso gemeint, mir war es
ernst mit ihm. Ich dachte, dass ich endlich jemanden gefunden habe, der mich einfach in die Arme nimmt, wenn es mir nicht gut geht. Es ist ziemlich kompliziert, Nora, oder?
Wenn ich es ihnen doch nur verständlich machen könnte.“ „Warum haben sie ihn nicht einfach angerufen?" „Ich hätte kein Wort herausbekommen, und wahrscheinlich war die Angst
vor einer Zurückweisung viel zu groß. Nein, ich wollte doch nicht als Stalkerin dastehen.“
„Anna, denken sie, dass sie über ihn hinweg sind?“ „Eine gute
Frage, Nora.“ Anna zögert mit einer Antwort. „Ich denke, dass immer etwas bleibt. Ob ich mich letztendlich ganz von ihm befreien kann, das wird die Zeit zeigen.“ „Meinen sie,
dass er auch etwas für sie empfunden hat, Anna?" „Ja, das glaube ich ganz fest, auch wenn es nur eine Illusion ist. Und selbst Wut ist ein Gefühl."
Ich
merke, dass ich das Gespräch mit Anna ein wenig in andere Richtung lenken muss, denn sie wirkt wieder aufgewühlt. „Anna, sie sagen, dass viel passiert ist in der Zwischenzeit,
nachdem wir uns in der Klinik getroffen haben. Wollen sie mir davon erzählen?“
„Ich mache es kurz, Nora. Mein Weg führte wieder zurück. Es war nicht
ganz einfach, viele Dinge mussten erst aufgearbeitet werden, das war ein langer Prozess. Es gab einen herben Rückfall, der für mich noch schlimmer war, als der erste Schub.
Ich habe ihn
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totgeschwiegen. Nochmal möchte ich das nicht mitmachen,
denn es kostet so viel Kraft, seinen Zwängen nicht nachzugeben, und doch habe ich es getan. Es ist glimpflich ausgegangen. Ich glaube, dass ich wieder angekommen bin, obwohl
mich die Vergangenheit nicht loslässt. Alles was geschehen ist, sehe ich jetzt als einen Teil meines Lebens an. Auch wenn ich nicht allein bin, fühle ich mich oft einsam.
Nicht alles ist so, wie ich es mir wünsche, da gibt es so einige Defizite in mancher Beziehung.“
„Anna, mit wem reden sie über ihre Erlebnisse oder ihre
Ängste?“ „ Mit vielen Ängsten bleibe ich allein. Sie kommen blitzartig, sind für einige Momente da und machen sich irgendwann wieder davon. Ich habe sie, wie viele andere
Menschen auch. Angst vor Krankheiten wie Krebs oder Demenz, Angst vor dem Älterwerden und dem Tod. Oft denke ich, dass ich das nicht will, älter werden. Von meinen Erlebnissen
rede ich nur, wenn jemand danach fragt. Die meisten interessiert es nicht, wie es tatsächlich um dich steht. Sie haben mit sich selbst genug zu tun und wollen gar nicht mit
Problemen anderer konfrontiert werden. Achten sie einmal darauf, wie lange ihnen jemand interessiert zuhört, wenn sie etwas in einer Gruppe über sich selbst erzählen. Meistens
dauert es ein- oder zwei Minuten, dann war es das und das Thema wird schnell gewechselt. Schauen sie bei ihrer Partnerwahl genau hin, Nora. Fängt er nach fünf Minuten an zu
gähnen, ist es der Falsche. Begeistert er sich für das, was sie tun und ist stolz auf sie, könnte das ein Glücksgriff werden. Jan scheint wirklich ein aufmerksamer und
geduldiger Zuhörer zu sein.
Nora, bleiben sie nicht allein. Hören sie auf ihr Herz. Probieren sie es mit Jan. Er ist ein durch und durch interessanter
Mann.“
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Anna ist meisterlich darin, schnell und ohne große Umwege das Thema
zu wechseln. Es macht ihr sichtlich Spaß, über Zwischenmenschliches zu debattieren. Ich komme mit ihr überein, dass wir in Kontakt bleiben, sie mich zu jeder Tages- und
Nachtzeit anrufen kann und ich mich bei ihr melde, sobald ich den Artikel für die Zeitschrift verfasst habe. Anna möchte gerne auf dem Laufenden bleiben über meine Beziehung
zu Jan. Dann kündigt sie an, dass sie alle Erinnerungen an die zurückliegenden Ereignisse aufschreiben und eine Geschichte über ihren Vater, der an Demenz erkrank war, in
Angriff nehmen will.
Ich freue mich, dass ich Anna vorerst in positiver Stimmung zurücklasse, und sie mich an ihrem weiteren Leben teilhaben lassen
will.