Leonie, Silvio und die anderen
Leonie
Sie warten vor
dem Schwesternzimmer. Henrike hat sie gleich nachdem sie die Einweisung bei ihrem Hausarzt abgeholt haben, hierher gefahren. Eine Schwester bringt sie in das Zimmer, das jetzt
für einige Zeit ihr Zuhause sein wird. In dem hellen Raum stehen zwei Betten, und es sieht hier aus wie in einem normalen Krankenhaus. „Packen sie ihre Sachen schon mal aus“,
sagt die Schwester, von der sie einen guten Eindruck hat. „Das Bett am Fenster ist frei. Nachher kommt ein Arzt und wird mit ihnen einige Fragen
durchgehen.“
Sie gibt ihr noch ein paar Hinweise und verlässt das Zimmer. Henrike hilft ihr beim Einräumen ihrer Sachen und macht sich dann gleich auf
den Heimweg, denn sie hat schon den halben Tag mit ihr zugebracht. Am nächsten Tag will sie wiederkommen und sich über den aktuellen Stand der Dinge erkundigen. Als sie ihre
Waschartikel in der Nasszelle, von der aus eine Tür zum WC führt, das auch vom Nebenzimmer zugänglich ist, untergebracht hat, erscheint ihre Zimmergenossin und stellt sich ihr
ohne Umschweife vor.
Auf Anhieb weiß sie, dass sie mit Leonie gut zurechtkommen wird. Sie ist ein paar Jahre jünger als sie selbst und bietet ihr gleich
an, sie auf alles anzusprechen, was ihr am Herzen liegt.
Das Auffälligste an Leonies Äußerem sind ihre hellblauen Augen, die ihr aus ihrem attraktiven
Gesicht entgegenstrahlen. Als Raucherin ist Leonie häufig auf dem Balkon anzutreffen, und sie zieht ihre Nachbarin gern mit dorthin. Auf diese Weise kommt der Kontakt zu
Silvio, Nina und den Anderen zustande. Leonie ist nicht schüchtern und hat auch zu ihnen ein gutes Verhältnis aufgebaut.
Als eine Woche vergangen ist,
darf sie zum ersten Mal die Station verlassen, aber nicht allein. Mit Leonie geht sie in die Cafeteria auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen und damit Leonie Eine rauchen
kann. Sie haben keine Langeweile miteinander, denn ihre Begleiterin kann ohne Unterlass plaudern.
Mit der Zeit erfährt sie, warum Leonie hier ist. Sie
kann sich gut in ihre Lage versetzen, da sie ähnliches erlebt hat, und das zum wiederholten Male.
Später gehen sie oft zusammen zum Einkaufen, denn
vorerst ist ihr das Verlassen der Klinik nur in Begleitung gestattet. Ihre Mitbewohnerin ist ein echter Glücksfall und macht ihr die ersten Wochen in der Klinik etwas
leichter, und sie vermisst Leonie, als ihre Behandlung zu Ende ist.
Silvio
Am Tisch, auf dem die Anderen
gerade ihre Frühstücktabletts postiert haben, nimmt auch Silvio Platz. Laut grüßend und wieder mal einen frechen Spruch auf den Lippen, schaut er sich in der Runde um. Er
erinnert an einen Rapper, wie man sie von einigen Musikgruppen kennt. Silvio trägt einen Spitzbart. Sein Alter ist schwer zu schätzen, sie denkt, dass er etwas über 30
ist.
„Wer möchte einen Joghurt? Ich nehme gerne noch ein Brötchen, Wurst und Käse, wenn es jemand loswerden möchte!“ Solche Tauschgeschäfte sind hier an
der Tagesordnung. Auf den ersten Blick macht Silvio einen selbstbewussten Eindruck, deshalb haben die Patienten ihn zu ihrem Sprecher gewählt, der die wöchentlich
stattfindenden Versammlungen leitet. Meistens dauern diese Treffen nicht länger als eine viertel Stunde, und es werden aktuelle Probleme und die Verteilung der Aufgaben
besprochen. Silvio erledigt seinen Job souverän.
Mit seinen manchmal ein wenig schlüpfrigen Kommentaren bringt er die Leute meistens zum Lachen. Welche
Probleme er wohl hat, oder hat er wohlmöglich gar keine, fragt sie sich? Sie ist erst seit 2 Wochen hier und glaubt, dass alles, was sich hier abspielt, inszeniert ist, in der
Parallelwelt spielen alle eine bestimmte Rolle.
Noch vermischen sich ihre Wahrnehmungen, und sie kommt sich vor wie in einer Laienspielgruppe. Aus
seinen Äußerungen entnimmt sie, dass er Halbitaliener ist. Immer wieder fordert er sie auf, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.
Am liebsten würde sie
gar nichts essen, weil sie sich angestarrt fühlt. Doch die Schwestern beobachten unauffällig jeden Patienten und registrieren genau, wer seine Mahlzeiten unberührt zurückgehen
lässt. Bei den Essensausgaben wird jeder einzeln aufgerufen und muss sein Tablett abholen, auch hier ist Silvio um einen Spruch nie verlegen.
Wie so
vielen hier auf der Station geht es ihm phasenweise schlecht, dann erscheint er nicht zu den Mahlzeiten. Um Silvio hat sich ein kleiner fester Kreis gebildet, der sich abends
im Aufenthaltsraum trifft, um ein paar Gesellschaftsspiele zu machen oder sich zu unterhalten. Niemand muss hier allein sitzen, wenn er es nicht möchte.
Auf dem Balkon treffen sich Raucher und Nichtraucher. Von hier aus hat man einen direkten Blick in den Innenhof der Klinik. Dort unten befindet sich die geschlossene
Abteilung. Schwere, akute Fälle verbringen hier die ersten Tage, Wochen, Monate oder bleiben so lange, wie ihr Zustand es erfordert. Nicht selten dringt lautes, lang
anhaltendes Rufen zu ihnen hinauf, an das man sich mit der Zeit gewöhnt.
Nach einigen Wochen ist sie in den Kreis um Silvio fest integriert. Sie mag
seine Art und seine Versuche, sich unbedingt von anderen zu unterscheiden und seine Individualität herauszustellen. Das Foto, das sie von ihm gemacht hat, als er sich den Bart
und die Augenbrauen von Nina blau färben ließ, bringt sie jedes Mal zum Schmunzeln, wenn sie es ansieht.
Nina
Nina ist so eine Art große Schwester für viele Patienten. Sie gehört mit zu denen, die Silvio um sich schart, nein, wahrscheinlich ist es eher
umgekehrt. Ihre Offenheit und ihre Ausstrahlung lässt sofort eine Vertrautheit entstehen, wenn Nina jemanden ins Herz schließt. Da sie nicht lange damit fackelt, es den ihr
sympathischen Menschen zu zeigen, gilt sie schnell als Ansprechpartnerin für allerlei seelische Probleme.
Nur ihr eigenes Seelenleben bekommt Nina nicht
in den Griff. Sie kämpft mit ihrer Einsamkeit, dem Verlust eines geliebten Menschen und dem Sinn des Lebens. Trotz ihrer Hochs und Tiefs hat Nina niemals schlechte Laune,
liebt Tattoos, womit sie reich bestückt ist, mag tassenweise Kaffee und Süßkram jeglicher Art. Letzteres ist ein wichtiger Faktor auf der Station. Dass hier niemand an
Überzuckerung leidet, ist sehr verwunderlich, denn die Süsskramkiste wird regelmäßig aufgefüllt und leert sich bei den abendlichen Treffen in einem
Wahnsinnstempo.
Als Raucherin sitzt Nina oft auf dem Balkon, weil man es im Raucherzimmer kaum aushalten kann. So bleibt es nicht aus, dass sie auch
Nina auf den Balkon folgt, um den Gesprächen zuzuhören. Die Geschichten, Hintergründe, Erfolge, Misserfolge und Zukunftssorgen lenken sie von ihrer Grübelei ab, genauso wie
traurige Schicksale und Streitgespräche.
Auf ihrem Nachttisch steht das Radio, das sie mitgenommen hat, als sie mit Henrike noch einige Sachen aus ihrer
Wohnung geholt hat. Niemand verbietet ihr, das Radio einzuschalten. Ein- zweimal stellt sie es an, um ein wenig Musik zu hören. Da sie jedoch die meiste Zeit mit Therapien
verbringt, steht es nur herum, und abends will sie ihre Zimmergenossin nicht mit dem Gedudel stören. Außerdem hat sie genug mit sich selbst und ihren Verfolgungs- und
Beobachtungstheorien zu tun. Sie ist sehr genervt von der älteren Dame mit dem Rollator, die sie in der Cafeteria regelmäßig auffällig anstarrt und von dem Paar, das in der
anderen Ecke beim Kuchen essen über sie tuschelt. Wenn sie aus dem großen Fenster hinausschaut, sieht sie die Autos, die immer noch ihre Runden drehen, wie sie es in ihrem
Stadtteil getan haben.
Doch sie freut sich trotzdem über die schöne Frühlingsdekoration, die er extra für sie auf der Station hat aufstellen lassen,
damit sie sich nicht von ihm im Stich gelassen fühlt. Große und kleine Schmetterlinge, Frühlingsblumen aus Seide und Herzen verschönern die Gänge, und sie kann ihm mal wieder
nicht böse sein, weil er sich so große Mühe gegeben hat. Und natürlich fallen ihr auch die kleinen gebastelten Osternester und Schafe auf, die auf der Fensterbank im Essraum
stehen. Dann muss sie lächeln, weil sie an ihre Briefe an ihn denken muss.
Nina sitzt auf dem Boden vor dem Schwesternzimmer und weint. Ganz plötzlich
ist es über sie gekommen, und die Schwester bringt ihr ein Plastikpinnchen mit einer Flüssigkeit. Nina lässt sich nicht beruhigen, und erst nach ein paar Minuten setzt die
Wirkung des Medikamentes ein und der Weinkrampf ist vorbei. Etwas später zum Mittagessen sitzt wieder die alte Witze machende Nina ihr gegenüber und hat wie üblich ein Ohr für
die Sorgen ihrer Mitpatienten.
Silke
Silke ist eine vom Pubertätsalter ihrer Tochter gebeutelte Mutter.
Ruhe, Bedacht und Ehrlichkeit zeichnen Silkes Wesen aus. Alles was sie sagt und tut, wägt sie vorher genau ab.
Silvio hat ein besonderes Verhältnis zu
Silke, obwohl sie einige Jahre älter ist als er. Sie verstehen sich gut und diskutieren sehr oft über Silkes Probleme. Zusammen mit Nina bringt Silke ihn jedoch auch
gelegentlich dazu, über die Gründe seines Aufenthaltes zu reden, dann wird der sonst so coole Silvio ernst und in seinen Augen sind aufsteigende Tränen zu
erkennen.
Micha
Micha ist ein ganz besonderer Fall. Auch er gehört zu dem kleinen Kreis um Nina und Silvio.
Von ihm geht etwas aus, das mit Charisma mehr als zutreffend zu beschreiben ist. In seiner Freizeit macht er Musik und hat keine Angst, mit ihr ins Gespräch zu kommen und ihr
seine Sympathie zu zeigen, was natürlich auf Gegenseitigkeit beruht.
Auch er versucht, ihr die Scheu vor den Patienten zu nehmen und sie zum Sprechen zu
bringen, denn sie ist sehr zurückhaltend und weiß noch nicht so genau, wer auf ihrer Seite ist. Es dauert nicht lange und Micha setzt sich mit ihr zusammen und spricht
ausgerechnet mit ihr über sich und sein Leben.
Sie genießt es, denn das hat sie nicht erwartet, dass mal jemand bei ihr Rat sucht und sich ihr
anvertraut. Dann versucht er, ihr Mut zu machen, um nicht an ihrer Situation zu verzweifeln. Von ihrer Krankheit weiß er nichts, sie selbst hat ihm nichts davon erzählt, nur
den Therapeuten und den Ärzten und vielleicht noch Leonie, aber genau weiß sie es nicht. Dass sie verliebt ist, ja, das scheint er wohl zu wissen.
So
entsteht auch zwischen ihnen ein unsichtbares Band, dass die beiden verbindet. Er ist ihr Helfer beim Kartenspiel und bringt sie zum Lachen. Micha bekommt Besuch von einer
Frau mit einem Musikinstrument. Ob es seine große Liebe ist, kann sie nicht herausfinden und sie fragt ihn später nicht danach.
Als seine Zeit in der
Klinik um ist, verabschiedet er sich von allen und verspricht, sie bald wieder zu besuchen. Tatsächlich steht er dann am Nachmittag ihres Geburtstages mit einem extra
Blumenstrauß vor ihr, nimmt sie in den Arm und drückt sie ganz fest an sich.
Sie ist fast peinlich berührt, dass jemand seine Zuneigung so ungeniert vor
den Augen anderer zeigt, und nach einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen ist er dann wieder verschwunden, Micha, der Mann mit dem
Charisma.
Paul
Am Morgen ihres Geburtstages war sie schon von den Patienten überrascht worden. Sie hatten
für sie gesammelt und ihr ein Ständchen mit mindestens 20 Sängern gebracht. Ein wenig fassungslos nahm sie dann ihre Geschenke entgegen, einen bemalten Keilrahmen mit all
ihren Unterschriften, mediterrane Bastelutensilien, verschiedene Farben Sand und ein Anleitungsheft mit Motiven des Meeres überreichten sie ihr noch vor dem Frühstück.
Das muss Pauls Idee gewesen sein, da war sie ganz sicher. Vor zwei Wochen hat sie mit Paul einen Spaziergang zum Baumarkt in der Nähe der Klinik
gemacht. In der Bastelabteilung haben sie ein Bild mit Meeresmotiven gesehen und beiden hat es auf Anhieb gefallen.
Auf dem Weg zum Baumarkt erfährt sie
auch Pauls Geschichte und es macht sie ein wenig traurig, dass Paul nicht vom Erfolg der Therapie überzeugt ist. Auch mit ihm versteht sie sich gut und bei Ausflügen mit den
Schwestern lernt sie ihn noch etwas besser kennen.
Diese Ausflüge waren ein Vorschlag der Schwestern, um manchen Patienten praktische Hilfe anzubieten,
indem sie direkt mit den Panikauslösern konfrontiert werden. Sie machen Spaziergänge über Brücken, fahren mit Zügen und besuchen Kaufhäuser, um Ängste
abzubauen.
Lara
Um solche Ängste zu bekämpfen, kommt Lara tagsüber auf die Station. Sie ist Mitte 20 hat
einen kleinen Sohn. Nach außen hin wirkt sie sehr entspannt und kommt mit allen gut aus. Mit Lara kann man Pferde stehlen und sie macht jeden Blödsinn mit. In einem Laden
kauft sie für eine Freundin Herzchen Handschellen, in einem anderen Geschäft einen lärmenden Hahn, der so manchem bei seinem Einsatz vor dem Schwesternzimmer die Nerven raubt,
weil er wie verrückt zu "Old Mcdonald had a farm" herumhüpft.
Die Heimfahrt im Zug verläuft entsprechend heiter, und die Patienten vergessen für ein
paar Stunden ihre Probleme.
Wochen später verlässt Lara die Klinik und hat wieder den Mut, ohne Begleitung den Heimweg mit dem Bus anzutreten. Auch für
Paul ist nach einigen Monaten der Tag gekommen, an dem er wieder in seine eigentliche Welt zurück muss, und kein neuer Patient kann Paul ersetzen.
Danach geht Nina und hat wieder geweint, weil sie nicht nach Hause wollte. Dann wird auch Silvio entlassen, und der Abschied von Silke fällt ihm schwer. Silke bleibt noch 14
Tage da, bis auch sie Platz für einen anderen Patienten machen muss.
Jackson
Jackson ist musikbesessen.
Wenn er auftaucht, geht das nicht ohne Gepolter oder laute Musik ab. Er ist ein gutmütiger Kerl, doch er braucht anscheinend viel Aufmerksamkeit. Die Schwestern wissen, wie
sie in anfassen müssen und schlagen schon mal einen schärferen Ton an.
Manchmal schläft Jackson bei einer Therapie ein, weil er übermüdet ist. Sein
Leben ist aus den Fugen geraten. Ohne fremde Hilfe kommt er zurzeit nicht zurecht. Micha und Jackson vertragen sich nicht, weil Micha ihm schon mal die Meinung sagt. Aber das
ist ihm egal, und er dreht einfach seinen Recorder noch ein bisschen lauter.
Als sie die Klinik verlässt, umarmt Jackson sie herzlich und wünscht ihr
alles Gute, dann setzt er sich auf den Balkon und singt lauthals mit bei Billy Jean. Am liebsten würde auch Jackson für immer hier bleiben.
Manga-Mädchen
Manga-Mädchen setzt sich mit ihrem Mittagessen zu ihr an den Tisch. Sie hat schwarzes halblanges Haar und ein
hübsches Gesicht. Meistens ist sie schwarz gekleidet. Am rechten Handgelenk trägt sie einen Verband. Das Mädchen erzählt nicht, wie es zu der Verletzung gekommen ist, doch mit
der Zeit wird es gesprächiger.
Manga-Mädchen scheint sie zu mögen, denn häufig kommt sie auf sie zu und umarmt sie ganz spontan. Zu den anderen hat sie
nicht so viel Kontakt, und nach einigen Wochen erzählt sie ihr, dass sie jetzt in eine Wohngruppe ziehen wird, worüber sie sehr glücklich ist.
An
einigen Wochenenden macht sie sich zurecht, um sich mit Manga Freunden zu treffen. Dann erkennt man sie kaum wieder. Die Wunde ist inzwischen verheilt und Manga-Mädchen schaut
jetzt zuversichtlich in die Zukunft. Sie verlässt noch vor ihr die Klinik und weint ein bisschen, als sie sie zum Abschied in den Arm nimmt.
Dann
verabschiedet sich Manga Mädchen von den Schwestern und verschwindet mit seinem schwarzen Rucksack durch die Glastür.
Die Sache
mit dem Hasen
Nach und nach lernt sie die Umgebung kennen. Die ersten Wochen sind vorüber, und sie kann sich endlich auch allein auf die Straßen wagen.
Der Weg zu dem Laden, in dem sie alle ihre Süßigkeiten kaufen, liegt etwa 500 Meter von der Klinik entfernt.
Ganz geheuer ist ihr die Strecke nicht.
Sie zuckt zusammen, als plötzlich ein Krankenwagen mit lauter Sirene an ihr vorbeischießt. Auf den Straßen herrscht reger Verkehr, am Straßenrand parkende Autos ignoriert sie
einfach, zumindest versucht sie es.
Den Hinweg schafft sie ohne größere Probleme. Erleichtert sucht sie alle Sachen zusammen, die ihr die Mitpatienten
notiert haben. Sie steht gerade an der Kasse, als ein Mann aufgeregt das Geschäft betritt. Schon allein diese Tatsache treibt ihren Blutdruck in die Höhe. Ihr Herz beginnt zu
rasen. „Hallo“, beginnt er atemlos auf die Kassiererin einzureden, „haben sie mal schnell einen Pappkarton?“
Fast glaubt sie nicht, was sie dann hört.
„Da draußen unter meinem Auto, ein Hase“, er holt noch einmal tief Luft, denn der Mann ist ziemlich korpulent, und der Weg von seinem Auto bis hierher hat ihm wohl etwas zu
schaffen gemacht.
„Er sitzt unter meinem Wagen und lässt sich nicht herauslocken.“ Die Dame an der Kasse macht riesig große Augen und denkt vermutlich,
dass er einen Scherz mit ihr machen will. „Wir wollen versuchen, ihn mit einem Karton einzufangen.“
Langsam steigt die Panik in ihr hoch, weil sie einen
Trick hinter dieser Aktion vermutet. Und wenn es das ist, was sie denkt, wird sie gleich wieder Höllenqualen durchleben. Nachdem sie bezahlt hat, verlässt sie das Geschäft,
während die Kassiererin noch mit dem atemlosen Mann diskutiert.
Es hätte nicht schlimmer kommen können. Ihre Befürchtungen sind wahr geworden. Das ist
ein Komplott, die Sache mit dem Hasen muss er sich ausgedacht haben. Und genau, wie sie es sich in ihrer Angst ausgemalt hat, steht ein großer Van halb auf dem Bürgersteig und
halb auf der Straße. Die Warnblinkanlage ist eingeschaltet. Auf der Fahrbahn hat sich schon ein kleiner Stau gebildet. Die Beifahrertür steht offen. Niemand sonst ist zu
sehen, der sich auf irgendeine Weise mit einem Tier befasst.
Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen, den sie noch in ihrer Lage aufbringen kann. Die
geöffnete Tür behält sie im Auge. In ihrem Kopf hämmert es, als sie daran vorbei geht. Dann hört sie ihre eigene Simme, die sagt: Geh einfach vorbei, es ist alles gut, geh
einfach vorbei. Um sie heraum hupen Auto. Zunächst merkt sie nicht, dass sie schon ein ganzes Stück von der bedrohlichen Stelle entfernt ist. Doch sie hat es geschafft, sie
ist nicht eingestiegen.
Den Rest des Weges bis zur Klinik legt sie mit doppelter Geschwindigkeit zurück und schaut sich nicht noch einmal um. Es dauert
einige Stunden, bis sie sich von dem Schock erholt hat. Dann denkt sie, dass sie wohl noch nicht über den Berg ist, und sie ist mal wieder ein bisschen sauer auf ihn und
seinen gemeinen Trick mit dem Hasen.
Mandy
Am Abend hat sich ihre Laune dann erheblich gebessert, denn
sie hat sich vorgenommen, einmal eine Geschichte über die Sache mit dem Hasen zu schreiben. Die Anwesenheit von Mandy rückt diesen Vorfall erst einmal in den Hintergrund.
Wenn Mandy laut lacht, dann ist es nicht sie selbst. In ihr wohnen mehrere Persönlichkeiten, die sich streiten, versöhnen und miteinander leben.
Gelegentlich erzählt Mandy aus ihrem Leben. Die Krankheit ist schon seit Jahren der Grund für häufige Klinikaufenthalte.
Keine Medikation kann Mandy
von ihren Begleitern befreien, sie kann nur starke Schübe lindern. Einmal spricht Mandy darüber, welche Personen sich ihrer bemächtigt haben, und dass Mandy niemals die
Oberhand gewinnt. Manchmal läuft sie wütend über die Stationsflure und ist aggressiv ohne ersichtlichen Grund. Kurze Zeit später trifft man Mandy, wie sie an die Patienten
Schokolade verschenk und sich im Aufenthaltsraum die Nägel lackiert.
Mandy mag Silvio und sucht schon mal seine Nähe.
Sie
möchte ihr die Nägel mit einem tollen Nagellack verschönern, weil sie eine richtig gute und ruhige Phase hat und weil die Medikamente wirken und sich im Moment alle vertragen,
in ihr drin. Ihre Geduld ist enorm, sie feilt und poliert, trägt drei Schichten Lack auf. Zwischendurch lacht sie, um gleich darauf mit tiefer Stimme etwas Unverständliches zu
sagen. Dann ist sie wieder Mandy, die so wunderbar die Nägel machen kann und die vielleicht nie sie selbst sein wird.
Tagesklinik
Seit einigen Tagen wird sie jetzt ambulant behandelt. Das ist überhaupt nicht so schön, wie sie es sich vorgestellt hat. Zunächst durfte
sie nur an den Wochenenden nach Hause. Die Schwestern achten penibel auf die Tabletteneinnahme, wann die Patienten die Klinik verlassen und wieder zurückkommen. Sie müssen
ihre Namen und ihre Aufenthaltsorte auf einer Tafel eintragen, damit keines der Schäfchen verloren geht.
Die tägliche Fahrt von ihrer Wohnung zur
Klinik ist nicht das Schlimmste, obwohl sie durch das Einkaufscenter führt und die Erinnerungen daran permanent gegenwärtig sind. Schlimmer ist die Kälte, die sie jetzt
empfindet, wenn sie zum Frühstück auf der Station eintrifft.
Zu den meisten Patienten ist der Kontakt nur sehr lose. Sie verbringt Stunden damit, auf
den Gängen hin und her zu laufen, nur um Menschen zu begegnen. Die Monotonie wird nur durch Therapien unterbrochen, die Mahlzeiten nimmt sie mit einigen anderen Tagespatienten
ein, die genau wie sie die Klinik um 16.00 Uhr verlassen.
Das Entlassungsschreiben der Klinik liegt vor ihr. Ungläubig liest sie, wie ihr Leben in den
letzten Monaten verlaufen ist. Die Berichte schockieren sie teilweise und machen ihr bewusst, was sich in ihrem Inneren abgespielt hat. Die Ärzte haben jedes Detail
notiert.
Mit einigen Formulierungen ist sie nicht einverstanden, doch ändern kann sie daran nichts. So hat sie sich nie gesehen, und sie ist erstaunt,
wie nüchtern die junge Ärztin, die ihre Tochter hätte sein können, ihren Zustand beurteilt hat. Natürlich haben sie auch über Gefühle gesprochen, dennoch gibt es auch für
Ärzte Grenzen, an die sie bei jedem Patienten stoßen. Jetzt, wo sich ein Berg Fragen vor ihr auftürmen, ist niemand mehr zur Stelle, um mit ihr eine Antwort darauf zu
finden.
Sie tröstet sich damit, dass es schlimmere Dinge im Leben gibt und setzt darauf, dass die Zeit vielleicht alle Wunden heilt, früher oder später.