Butterbrot und rote Pumps
Sie fühlt sich so gut wie schon lange nicht mehr, und das sieht man ihr auf
100 Metern Entfernung auch an. Wer sie kennt, dem wird sofort auffallen, dass sie sich verändert hat.
Ihre Frisur und ihr restliches Äußeres hatte eine
Generalüberholung nötig. Gut, man kann aus einem Oldtimer keinen neuen, nach aerodynamischen Gesichtspunkten gestalteten Rennschlitten machen, doch würde sie so ein altes
Stück in jedem Fall einem modernen Flitzer vorziehen. Mit einem bisschen Politur, einer guten Friseurin mit etwas Mut zur Farbe an der Kundin und einem struppigen, frechen
Haarschnitt hat sie locker 5-6 Jahre wettgemacht. Jetzt ist die Kleidung samt Schuhen an der Reihe.
Ihr Schuhregal weist deutlich weniger Paare auf, als
es die Statistik vorgibt. Schon am ersten Schuhgeschäft kann sie nicht vorbei gehen. Die roten Pumps im Fenster haben es ihr angetan. Mit der Absicht, nur dieses eine Paar
mitzunehmen, betritt sie den Laden.
An ihren Füssen sehen diese Schuhe aus wie Leuchtbojen auf dem offenen Meer. Diese Tatsache stört sie allerdings
nicht im Geringsten, und die Verkäuferin sieht keinen Grund, ihr diese roten zehn Zentimeter Höhe auszureden.
Im Kopf rechnet sie kurz nach, wie es bei
dieser Ausgabe um ihr Konto steht, leichtsinnig will sie nicht sein. Aber die Pumps sitzen so gut, und da sind noch zwei Paar, die sie auch brennend interessieren, verleihen
sie ihr doch ein bisschen mehr Größe, Körpergröße wohlgemerkt.
Vielleicht bekommt sie ja jetzt mehr Gelegenheit, mit diesem Traum in Rot einen
filmreifen Auftritt hinzulegen, sogar mit Applaus, falls es zu einem Sturz kommen sollte. Das richtige Laufen damit würde sie sicher in ein paar Stunden gelernt haben.
Seit Wochen lebt sie mit einem Gefühl im Bauch, für das es keine Beschreibung gibt, um den Nagel auf den Kopf zu treffen. Man kann es mit einem
ständigen, heftig stechenden Schmerz vergleichen, der ihr in die Eingeweide fährt, wenn sie nur an ihre Eroberung denkt. Nun fehlen ihr noch einige schicke, peppige
Kleidungsstücke in ihrem Schrank, die zu den roten Hinguckern passen und die sie seinem Alter ein Stück näher bringen.
Die nächsten Geschäfte verlässt
sie, ohne etwas gekauft zu haben. Dann kommt sie an einer Boutique vorbei, die sie eigentlich immer ignoriert, weil die hier angebotenen Fummel nicht ihrem Geschmack
entsprechen. Doch heute ist alles anders, sie hat „Ihr Kleid“ draussen auf dem Kleiderständer auf den ersten Blick gefunden. Hoffentlich ist es meine Größe, denkt sie und
schaut eilig auf das Preisschild, das am Kragen befestigt ist.
Und schon wieder hat sie Glück, genau wie bei den Schuhen. Dieses Teil passt wie
angegossen und sieht absolut umwerfend an ihr aus, findet auch die Verkäuferin, dazu die roten Pumps und sie wäre der „Burner“ schlechthin. Zwei Blusen und eine Hose wandern
auch noch in die Tasche und lassen ihr Herz wieder einmal höher schlagen.
Bevor sie zur Bushaltestelle geht, kehrt sie noch in die Strumpfabteilung
eines Kaufhauses ein, um die passende Leggin oder ein Paar sexy Strümpfe passend zu den High Heels zu kaufen. Stolz wie noch nie und mit einem gestärkten Selbstbewusstsein,
fährt sie zurück nach Hause und freut sich auf die bevorstehende Feier, bei der sie die ersten roten Pumps ihres Lebens tragen wird.
Die Musik dringt
gedämpft an ihre Ohren, weiche Klänge wirken beruhigend auf ihre herum wirbelnden Gefühle. Sie hat ihn ganz für sich allein, seine Augen sind geschlossen, ob er schläft? Oder
genießt er einfach nur den Augenblick, ihr ganz nah zu sein, verbunden mit Körper, Geist und Seele? Eine Weile schaut sie ihn an, wie sie es immer gerne in dieser Situation
tut. Dem Impuls, ihm sanft und liebevoll durch das weiche dunkle Haar zu streichen, muss sie auch dieses Mal nachgeben.
Ein paar graue Strähnen zeigen
sich auch bei ihm, was ihn jedoch noch interessanter erscheinen lässt, als es eh schon der Fall ist. Eine Welle von zärtlichen Gefühlen überkommt sie, als sie die Weichheit
und den Duft seiner Haut spürt. Behutsam, damit sie ihn nicht aufweckt, erforscht sie jede Stelle seines Gesichtes, damit sie niemals einen seiner Züge
vergisst.
Wer weiß schon, wie lange ihnen dieses Glück gegeben ist, in diesem Moment möchte sie niemals wieder von ihm getrennt sein oder ihn auch nur
für Sekunden woanders wissen.
Er scheint ihre Hand gefühlt zu haben und ergreift sie jetzt bewusst oder unbewusst, zieht sie zu sich heran und führt sie
an seine Lippen. Ein wohliger Laut lässt sie ahnen, woran er gerade in diesem Moment denkt. Seine Augenlieder fangen an, sich zu öffnen, seine andere Hand tastet sich in die
Richtung, aus der sie ihn gerade betrachtet, und seine Finger finden sich in ihrem Gesicht wieder.
Sein unbeschreiblich charmantes Lächeln lässt sofort
ihr Herz bis zum Hals klopfen, er weiß genau, welche Wirkung er damit bei ihr erzielt. Sie rückt näher an ihn heran, will seine Wärme und Zärtlichkeit in sich aufnehmen und
den erotischen Strom, den seine Nähe bei ihr erzeugt, voll und ganz in ihren Körper fließen lassen. Die Welt um sie herum existiert nicht mehr, es gibt nur noch sie und ihn
und den anregenden Rhythmus der Musik.
Leise flüstert sie ihm ins Ohr, was sie ihm so gerne sagt, und er kann sich nicht mehr zurückhalten, als sie ihn
sanft auf die Augen küsst. Wie leichte Wellen, die sich durch einen herannahenden Sturm verstärken, werden sie von einem Rausch erfasst, der sie all ihre Kontrolle verlieren
lässt.
Und doch scheint er seine Sinne noch zu beherrschen, denn sie schaut kurz direkt in seine geöffneten Augen, um darin zu lesen, was in ihm
vorgeht. Er hat außergewöhnlich schöne Augen. Ihr wird zum ersten Mal bewusst, wie es ist, sich in ihnen voll und ganz zu verlieren. In seinem Blick liegt Begehren, Feuer und
Faszination, Erwartung und Spannung zugleich. Sie lassen sich Zeit, ihre Worte, die aus den tiefsten Winkeln ihrer Seele herausschreien, ziehen auch ihn jetzt in einem Strudel
von Gefühlen mit.
Langsam kommen sie wieder zur Ruhe, sie liegen noch eine Weile eng umschlungen, jeder den Anderen atmend, als wäre es das letzte Mal,
dass sie sich spüren. Ihre Gedanken drehen sich um das gerade Erlebte, und sie möchten sich gar nicht voneinander lösen.
Dann steht er auf, sie
beobachtet ihn dabei, wie er seine Kleidung aufhebt und bewundert seinen muskulösen Körper. Er kommt noch einmal mal zu ihr, küsst sie auf die Stirn und haucht ihr ins Ohr:
„Bitte Schatz, zieh sie nochmal an für mich.“ Er greift unters Bett, hält ihr die „Roten Pumps“ entgegen und schenkt ihr sein spitzbübisches Lächeln, das sie so sehr an ihm
liebt.
Das unromantische Gluckern des Heizkörpers weckt sie auf, das Geräusch des Wassers in den Rohren reißt sie aus ihrem wunderschönen Traum. Es ist
Samstag und heute findet die große Familienfeier statt. Eine Tasche mit den nötigsten Utensilien und ihrer Abendgarderobe nimmt sie mit zu ihren Verwandten, wo sich alle Gäste
zum Kaffeetrinken treffen.
Als es auf den Abend zugeht, machen sich alle salonfähig und fahren gemeinsam zum Lokal, in dem extra ein Raum festlich
hergerichtet ist. In ihren neuen Sachen kommt sie sich zunächst etwas eigenartig vor, so gar nicht wie sie selbst. Sie muss an die Intensität ihres Traumes denken, was dazu
führt, dass sich wieder das Hochgefühl einstellt und ihre Wangen sich mit einer leichten Verlegenheitsröte überziehen.
Ihre inneren Gefühle scheint sie
deutlich nach außen zu tragen, denn einige Gäste bestätigen ihr, dass sie wie ein Stern strahlt und sie sich zu ihrem Vorteil verändert hat. Das Kompliment nimmt sie dankend
an und freut sich darauf, ihm davon berichten zu können. Schließlich ist es sein Verdienst, dass es ihr so gut geht.
Einige Tage später macht sie sich
für einen schönen Abend mit ihm zurecht. Um ihm zu gefallen, gibt sie sich sehr viel Mühe. Sie möchte ihn in ein feines Restaurant zum Essen einladen. Über einen Hinweis hatte
er sich angemeldet und sie verstand es so, dass er sie abholen wollte.
Ungeduldig läuft sie auf ihren hochhackigen Schuhen hin und her, immer wieder
auf die Uhr schauend. Die Zeit verstreicht, und nach 2 Stunden wird ihr klar, dass sie etwas falsch verstanden haben muss. Nach einer weiteren Stunde ist sie sicher, dass sie
diesen Abend allein verbringen wird.
Tränen der Enttäuschung bahnen sich den Weg aus ihren sorgfältig geschminkten Augen. Die Wimperntusche hinterlässt
schwarze Rinnsale auf ihren Wangen. Erst jetzt kommt ihr in den Sinn, dass sie noch etwas essen muss, seit dem Frühstück hat sie nichts mehr zu sich genommen vor lauter
Nervosität, eine leichte Übelkeit macht sie darauf aufmerksam.
Eine Scheibe Brot findet sie in einer Plastiktüte im Vorratsschrank. Margarine steht im
Kühlschrank, und einige Käsesorten liegen verpackt in der Frischebox. Ihr Kleid hat sie noch an und auch die roten Schuhe. Mit dem belegten Brot in der Hand läuft sie unruhig
durch die Wohnung.
Sie schaut in den Spiegel im Flur und beißt ein Stück von ihrem üppigen Abendessen ab. Dann fällt ihr der Traum wieder ein und sie
lächelt, als sie daran denkt, und an diesen Abend, an Butterbrot und rote Pumps.