Immer wieder überraschte sie, wie fließend die Welten in einander übergingen. Er war da, das musste sie fürs Erste so
akzeptieren, aber er bedrängte sie nicht mehr ununterbrochen, sondern verhielt sich ruhig, als würde er darauf warten, dass sie endlich freiwillig zu ihm
kam.
Jan, Henrike, Erik und die Oma trafen pünktlich um 15.30 Uhr zum Kaffeetrinken ein, Eva, die Schwester ihres Mannes und Lars, sein Schwager
erschienen eine viertel Stunde später.
Man feierte den Geburtstag ihres Mannes und nutzte dazu den Sonntagnachmittag. Sie war froh darüber, auch Erik
einmal wieder zu sehen, denn er besuchte, trotzdem er jetzt in Gütersloh wohnte, seinen Vater nicht sehr oft. Er war auch nicht sonderlich gesprächig, doch das hatte wohl
damit zu tun, dass er sich zur Zeit nicht sehr wohl fühlte in seiner Haut. Seine berufliche Zukunft stand auf unsicheren Beinen und er versuchte gerade, seinen labilen
psychischen Zustand zu stabilisieren.
Sie mochte Erik sehr gern, auch wenn er sie als kleiner Junge gelegentlich bis zu Weißglut trieb mit seiner
Hibbeligkeit und seinen genialen Streichen. Er war auf der Suche nach einer Frau, die ihm so zu sagen das Wasser reichen konnte, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als
endlich eine Familie gründen zu können.
Der Nachmittag verging ohne besondere Vorkommnisse. Alles lief ab, wie immer an solchen Tagen. Während sie das
Abendessen zubereitete, gesellte sich Erik zu ihr in die Küche, und sie unterhielten sich über Dieses und Jenes und ihre gemeinsamen Erfahrungen mit einer angegriffenen Psyche
und Behandlungsmethoden. Nach dem Abendessen, Eva und Lars waren bereits gegangen, machte sich plötzlich eine gespannte Erwartung unter den Besuchern
breit.
Dann geschah etwas, dass sie von Jan überhaupt nicht kannte. Er setzte sich zu ihr auf den Sessel gegenüber, lächelte sie an und fragte, ob sie
noch Malen und Tanzen ginge. Völlig irritiert von seinem Interesse an ihren Hobbys antwortete sie ihm und sah ihn ungläubig an. Die dann eingetretene Stille wurde jetzt durch
lautes Trampeln der Nachbarskinder unterbrochen.
Was hatte das alles zu bedeuten? Alles schauten sie an und schwiegen dabei, anscheinend erwarteten sie
etwas von ihr, sie konnte sich nur nicht erklären, was es war. Das Gepolter machte sie nervös und verlegen, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. War sie wieder in die
Parallelwelt eingetaucht, ohne es zu merken, hatten sich Phantasie und Realität derart vermischt, dass ihre Familie die gleiche seltsame Rolle spielte wie schon Monate
zuvor?
Ihre Gedanken überschlugen sich, wollten sich Jan oder Erik jetzt etwa als „Der Fuchs“ outen? Oder war er in der Wohnung gegenüber und wartete
darauf, dass sie ihn aus seinem Versteck befreite? Starr vor Schreck saß sie auf dem Hocker und hoffte, dass sie irgendjemand aus dieser verworrenen Situation
herausholte.
Henrike machte ihrer Verlegenheit ein Ende und sprach davon, dass es keinen Sinn hätte und etwas von einem „Scherbenhaufen“. Das Toben der
Nachbarskinder hielt noch eine ganze Weile an. Erik verließ kurz die Wohnung, um etwas aus seinem Auto zu holen. Niemand sprach sie auf das Geschehene an, und Erik erschien
wieder mit einem von ihm gemalten Bild. Es war die Abbildung eines Sternenhimmels mit einem Stück der Erde, und er wollte ihre Meinung dazu hören.
Er
tat ihr ein wenig leid, hatte sie doch den Eindruck, dass er sie noch mit einer anderen Sache überraschen wollte, sie aber nicht begriffen hatte, worum es dabei ging. Ohne auf
die rätselhaften Vorgänge einzugehen, verließen alle Gäste wenig später die Feier. Zurück blieb noch eine Ladung Geschirr für die Spülmaschine und die Frage über das seltsame
Verhalten der Familie ihr gegenüber nach dem Abendbrot.
Sie musste erfahren, dass wohl wieder einmal ihre Einbildung die Oberhand gewonnen hatte und es
keine Grenzen zwischen den Welten gab, die sie von deren Überschreitung abhielten.