Jan hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er nicht existierte, für sie nicht existierte und alle Ereignisse die
Folge starker psychischer Belastung waren. Ob er nur im Entferntesten ahnte, was diese Worte für sie bedeuteten? Sicher nicht, denn sonst wüsste er, dass man Gefühle nicht so
einfach abstellen oder schnell vergessen konnte.
Die Diagnose der Ärzte in der Klinik war niederschmetternd. Sie bescheinigten ihr eine
Wahrnehmungsstörung, zwar im akuten Stadium und wohl nur zeitlich begrenzt, konnten ihr aber nicht garantieren, dass die Symptome nicht irgendwann wieder auftreten würden.
Diese Nachricht schürte weiter die Angst in ihr, dass ihr doch vielleicht das gleiche Schicksal wie das ihres verstorbenen Vaters drohte. Bei ihm begann die Krankheit
schleichend, er entdeckte Menschen auf Gartenbäumen und Hausdächern, die Andere nicht sahen.
Zunächst wurden seine Aussagen noch mit einem Lächeln
abgetan, man glaubte, er wollte sich einen Spaß mit seiner Familie machen. Mit der Zeit wurde sein Gedächtnis immer schlechter, es zeichnete sich ab, dass sein Gehirn durch
einen vorangehenden Sturz doch sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Zeichen einer einsetzenden Demenz wurden immer deutlicher, seine Fähigkeit, Begebenheiten im
Gedächtnis zu behalten, das Erkennen seiner Angehörigen oder seine Präzision bei der Ausübung seines Hobbys oder alltäglicher Dinge verlor er nach und
nach.
Die Pflege wurde für seine Angehörigen, besonders für seine Ehefrau, so schwierig, dass sein Aufenthalt in einem Heim nicht mehr zu umgehen war.
Sie wusste also nur zu gut, was eventuell auf sie zukommen könnte und machte sich sehr viel Gedanken darüber, während ihres gesamten Klinikaufenthaltes.
In den ersten Wochen jedoch hielt sie die Klinik samt Ärzten und Patienten für ein weiteres Einschränken ihrer persönlichen Freiheit, man wollte sie aus ihr nicht
bekannten Gründen einfach aus dem Verkehr ziehen. Es war wohl ganz normal, dass es eine Weile dauerte, bis die Wirkung der eingesetzten Medikamente und die Ruhe des
Kliniklebens sie in das reale Leben zurückbrachten.
Zunächst versuchte sie immer wieder, eine Verbindung am Telefon herzustellen und ertappte sich
dabei, wie sie nachts in das Zimmer einer Mitpatientin schlich, weil sie glaubte, sie fände ihn dort.
Einige Wochen später hörten die Vögel mit ihrem
ständigen Singen auf, die lauten, bedrohlichen Geräusche wurden immer weniger, besser gesagt, sie registrierte alles wieder in normaler Lautstärke.
Dafür kamen aber die Schuldgefühle hinzu, die sie ihrem Mann und ihrer Tochter gegenüber hatte und deren Verarbeitung ein Teil der Gespräche mit den Ärzten und Psychologen
beinhaltete. Das zwanghafte Verhalten legte sie erst nach einigen Wochen der Behandlung ab und Patienten und Ärzte waren für sie nun wieder die
Wirklichkeit.
Nach und nach konnte sie sich sicher auf den Straßen und in den Geschäften bewegen, die Patienten und das Klinikpersonal bemühten sich um
sie, banden sie in Gespräche ein und sorgten für Zeitvertreib.
In den letzten Jahren war sie zurückhaltend geworden und drängte sich nie jemandem auf,
bis auf das eine Mal, als sie ihre Gefühlswelt nicht mehr unter Kontrolle hatte. Darum kam es ihr gerade recht, dass die Mitbewohner auf sie zukamen und sie in ihre Mitte
nahmen.
Die Krankheitsbilder der Patienten waren sehr unterschiedlich, einige hatten die gleichen Erscheinungen wie sie, und bei Gesprächen merkte sie,
dass sie nicht alleine war mit ihrem Problem. Etwa 6 Wochen später durfte sie die Wochenenden oder einzelne Wochentage zu Hause verbringen, was als Übung für das normale Leben
außerhalb der Klinikmauern sehr sinnvoll war. Erst nach drei Monaten konnte sie wieder in ihre Wohnung zurückkehren, der Spuk war vorbei und sie musste ihren Alltag alleine
bewältigen.