Ihr Unterbewusstsein lieferte ihr mehr oder weniger realistische Geschichten über sein erneutes Auftauchen. Von einer
Sekunde zur Anderen begann er, alles mit ihr Zusammenhängende zu steuern, und zwar so, dass sie es zwar bemerkte, zu niemandem aber ein Wort darüber verlor. Sie wollte diese
Phase, die hoffentlich nur von kurzer Dauer sein würde, ganz alleine bewältigen.
Auch Jan und Henrike brauchten darüber nichts zu wissen, denn sie
würden sie wahrscheinlich wieder zu einem Klinikaufenthalt drängen. Zugegeben, es gefiel ihr ungemein, ihn in ihrer Nähe zu wissen, praktisch Seite an Seite mit ihm den Tag
und die Nacht zu verbringen. Er sprach zu ihr auf seine Weise und sie antwortete ihm mit den Worten, die ihr momentanes Gefühl für ihn ausdrückten. Jedes Empfinden versuchte
sie, ihm zu beschreiben, ermöglichte ihm bis in die letzte Ecke ihrer verletzten Seele zu schauen und bot ihm an, sich auch ihr gegenüber ohne Tabus zu
öffnen.
Für eine Weile vermutete sie sogar, dass er ein Doppelleben führte, ein Double an die Seite seiner Frau gestellt hatte, dessen Stelle er jetzt
aber nach und nach einnehmen wollte. Wie sie das allerdings technisch hinbekamen, daran rätselte sie noch herum. Verwendeten sie vielleicht Kautschukmasken? Unweigerlich
musste sie an den Thriller "Im Körper des Feindes" denken und an die perfekte Arbeit der Maskenbildner. Doch das war nur eine Variante, die als Erklärung für seinen
dauerhaften Aufenthalt in ihrer Welt in Frage kam, sie hatte noch eine viel haarsträubendere Story darüber in ihrem Repertoire.
Irgendwo im Haus oder
der näheren Umgebung leitete er ihre Geschicke, und das schon seit langer Zeit, ohne sie einzuengen und ihr den Freiraum, den sie brauchte, zu nehmen. Jedoch schien er nichts
dem Zufall zu überlassen und ließ sie in dem Glauben, ein ganz normales Leben zu führen. Sie war nach wie vor der Meinung, von ihm überwacht zu werden, vielleicht war es sogar
von ihm beabsichtigt, dass sie es merkte und damit sie sich daran gewöhnte, immer in seinem Focus zu stehen.
Insofern hielt er dem Vergleich mit einem
Fuchs stand, dem es gelang, sich unauffällig an seine Beute anzuschleichen, sie im Auge zu behalten und in Sicherheit zu wiegen, allerdings mit dem Unterschied, dass er sie
nicht erlegen, sondern nur behüten und für sich einnehmen wollte.
Da es um ihre Psyche so schlecht bestellt war, hatte sie schwere Probleme damit, sich
auf seine fordernde Art, die bis an die Schmerzgrenze ging, einzustellen. So beschuldigte sie ihn sogar, ihr absichtlich Schmerzen zuzufügen, um sie dazu zu bringen, ihn
weiterhin zu suchen oder ihn telefonisch zu kontaktieren. Mit aller Kraft sperrte sie sich jedoch gegen sein andauerndes Anrennen gegen ihre Vernunft und geriet dabei erneut
in eine tiefe Verzweiflungsphase, die sie für einige Stunden komplett in Weinkrämpfe versetzte und sie jeglichen weiteren Kontakt mit ihm verweigern ließ. An diesem Tag hätten
keine Zehn Pferde sie dazu gebracht, allein die Wohnung zu verlassen, so sehr machte sich Angst in ihr breit, wieder in der Ausweglosigkeit zu enden.
Ihren Mann bat sie, sie zum Geldschalter zu begleiten, weil sie sich außerstande fühlte, sich zwischen den Menschen zu bewegen. Er erwies sich sehr verständnisvoll ihren
Ängsten gegenüber und sie war ihm dankbar für seine Hilfe und Geduld mit ihr.
Das Verhältnis zwischen ihnen verbesserte sich langsam und sie versuchte
alles, um die Parallelwelt, in der sie sich jetzt schon seit Monaten befand, wieder zu verlassen. Vorerst jedoch arbeitet der Fuchs mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung
standen, daran, sie als Partnerin für sich zu behalten.
Seine Beharrlichkeit und sein Einfallsreichtum beeindruckten sie, doch oft fragte sie sich, was
ihm an ihr überhaupt gefiel, warum er sie einfach nicht freigeben wollte. Eine seiner wichtigsten Waffen war sein Humor, mit dem er sie manchmal aus den negativen Gedanken
herauszog. Mit seinem umwerfenden Charme schaffte er es jedes Mal, sie um den Finger zu wickeln, mit sanften Klängen und fordernden, fast dominanten Rhythmen eroberte er immer
wieder ihr Herz.
Sie hatte begriffen, dass auch er in gewisser Weise von ihr abhängig war. Darum gab sie ihm ebenfalls das, was er ihrer Meinung nach
brauchte, wenn auch nur in Gedanken und Worten, mehr war in dieser Situation nicht möglich. Bis zu einem bestimmten Punkt und nur mit guter Vorstellungskraft konnte man Liebe
in diesem aussergewöhnlichen Verhältnis weitergeben.
Doch reichte ihm das auf die Dauer? Wie würde er darauf reagieren, wenn sie sich wohlmöglich
niemals trafen?