Sie stand weinend am Fenster ihres kleinen Ateliers, dass sie jetzt nach ihrer Rückkehr als Mehrzweckzimmer nutzten. An
den Wänden, an denen sonst etliche Zeichnungen von ihr einen Platz gefunden hatten, hingen nun einige alte Aquarelle. Es versetzte ihr einen Stich, die Bilder in Taschen
verstaut in den Schränken unterbringen zu müssen.
Das allerdings war nicht der Grund für ihre Traurigkeit, vielmehr prasselten die Erinnerung wieder mit
aller Wucht auf sie nieder, und sie stand wie immer diesem Zustand wehrlos gegenüber. Mit ihm und mit sich selber redend versuchte sie, das ununterbrochene Schluchzen in den
Griff zu bekommen.
Die Autos auf der Straße fuhren sehr langsam, so, als wollten sie ihr seine Gegenwart deutlich machen und ihr den Weg zum Ziel
weisen. Ein Verlassen der Wohnung kam für sie auf keinen Fall in Frage, und so haderte sie Stunden mit ihm und beruhigte sich erst wieder, als einige Pakete
Papiertaschentücher verbraucht waren.
Einmal überlegte sie sogar, ob sie ihm die mit ihren Tränen getränkten Erinnerungsstücke mit der Post zuschicken
sollte, verwarf aber sofort diesen Gedanken wieder, denn sie waren lediglich das Ergebnis ihrer eigenen Fehler, die sie doch unbedingt vermeiden wollte. An ihn geklammert wie
eine lästige Fliege, wurde sie für ihn zu einem Klotz am Bein.
Sie liebte und sie litt gleichzeitig, dann, irgendwann, war die Situation aus dem Ruder
gelaufen.
Vor ihren Augen tauchten die Bilder auf, die sie im Einkaufcenter flüchtend vor seinen Helfern zeigte. Mehrmals führten sie die Hinweise
damals hierher und niemals würde sie das Gefühl des verfolgt und bedroht sein vergessen. Jeder Person, die sich ihr näherte, wich sie umgehend aus. Fest entschlossen lenkte
sie ihre Schritte in ein Kaufhaus, das auch mit Haushaltswaren bestückt war. Ohne zu zögern würde sie Jeden, der sie an ihrem Plan hindern wollte, mit einem Bodycheck aus dem
Weg räumen.
Zielstrebig steuerte sie auf die Abteilung mit den Haushaltswaren zu und durchkämmte mit einigen Blicken systematisch die Regale. Nach
wenigen Sekunden fand sie, wonach sie suchte. Ohne ihre Umgebung aus den Augen zu lassen, nahm sie eine Packung mit 4 verschiedenen Küchenmessern heraus, kramte die Geldbörse
aus ihrer Tasche und stellte sich zum Bezahlen an die Kasse. Niemand hinderte sie daran, aber sie sah auch die Kameras, die jede ihrer Aktionen auf Monitore
übertrugen.
Gut, das war schon mal geschafft, jetzt hieß es nur noch aus dem Geschäft heraus auf die Promenade zu gelangen, um aus ihrem Sichtfeld zu
verschwinden. Sofort, als sie das Gebäude verließ, heftete sich ein Mann mit einigem Abstand an ihre Fersen. Ihr Ziel, der Busbahnhof, lag nur ein paar Meter entfernt, und sie
wollte den nächst möglichen Bus zu ihrer Wohnung noch erreichen.
Während ihr Verfolger sich eine Zigarette anzündete, blieb sie abrupt stehen, um sich
zu orientieren. Gerade, als sie sich mitten auf einer Holzbrücke befand, näherte sich von der anderen Seite des Stegs ein scheinbar harmloses Pärchen mit einem
Kinderwagen.
Okay, Smoky, sie fand, der Name passte zu ihm, sollte sie also nur beobachten und schaute aus etwa 50 Metern zu ihr herüber. Aber welchen
Auftrag hatten Bonny und Clyde?
Vorsichtshalber holte sie die Packung mit den Messern aus ihrer Tasche, knibbelte die Verpackung auf, nahm zu ihrem
Schutz ein Tomatenmesser heraus und hielt es so in der Hand, dass es für ihre Verfolger gut zu sehen war. Sie wollte Smoky und die anderen unbedingt von sich fern halten und
sich den Heimweg freikämpfen.
Der Raucher schien alle Zeit der Welt zu haben und blieb unbeeindruckt auf seinem Beobachtungsposten stehen. Mit einem Mal
geriet sie wieder in Panik, sie hatten ihr den Fluchtweg erneut versperrt, sie war in eine Falle geraten, aus der es kein Entkommen gab.
Resigniert sah
sie auf das Messer, das sie in ihrer Hand hielt und das sich langsam wie von selbst ihrem Körper näherte. Noch einmal hob sie den Kopf und blickte in die Richtung, aus der sie
das Paar mit dem Kind zuvor kommen sah. Doch von ihnen war nichts mehr zu sehen und der Weg war frei für sie.
Langsam begriff sie, was geschehen war,
sie warf das Messer in ihre Tasche zurück und lief eilig auf das Einkaufscenter zu. Auf Smoky achtete sie nicht mehr, und sie wollte auch nicht mehr mit dem Bus nach Hause
fahren. Die Enge würde sie nicht ertragen können und außerdem war es zu gefährlich, bestimmt würden sie sie auch dort unter ihre Kontrolle bringen
wollen.
Erst beim Betreten des Gebäudes merkte sie, dass sie vor Angst zitterte und unter höchster Anspannung stand. Erschöpft suchte sie sich einen
Platz auf dem Parkdeck, setzte sich auf einen Mauervorsprung, nahm das Messer wieder hervor und starrte entsetzt auf die Klinge. Ein paar Leute gingen an ihr vorbei, ohne sie
anzusprechen.
Es wäre wohl ganz einfach gewesen, das Messer an den richtigen Stellen ihrer Unterarme anzusetzen und das Blut mit einem einzigen Schnitt
fließen zu lassen. Wie schnell würden sie wohl reagieren, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen oder Ihre Verletzungen zu behandeln?
Die Augen
geschlossen, lehnte sie sich an das Geländer des Parkdecks und verharrte so einige Minuten. Das Hupen eines Autos riss sie aus Ihrer Lethargie, es war ein Zeichen dafür, dass
man sie gefunden hatte.
Müde erhob sie sich und ging mechanisch auf die Eingangstür zu, die ihr irgendjemand freundlicher Weise aufhielt. Um sich zu
bedanken, blickte sie noch einmal zurück und rieb sich ungläubig die Augen. Dort auf dem Deck, das sie gerade verlassen hatte, stand Smoky. Er zündete sich gelassen eine
Zigarette an, winkte ihr kurz zu und verschwand langsam zwischen den parkenden Autos.