Die Weihnachtszeit stand für sie logischer Weise unter einem besonderen Stern. Immer noch fand sie nicht den Mut, sich
jemandem zu öffnen und von ihrem Zwiespalt zu berichten, in dem sie sich befand. Außerdem war sie darum bemüht, die Feiertage für die Familie ohne Spannungen und Ärger
ablaufen zu lassen.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihrer Niedergeschlagenheit und Nervosität eine Maske der Zufriedenheit über zu stülpen, damit
man ihre Zerrissenheit nicht bemerkte. Wer hätte das verstanden, wenn sie von ihrer Sorge, dass er die Feiertage allein verbringen musste, erzählt hätte. Auf diese entsetzten
Gesichter wollte sie lieber verzichten.
In Gedanken stellte sie sich ihn vor Einsamkeit betrunken in irgendeiner trostlosen Unterkunft, ein ekeliges
Fertiggericht essend und sie auf einem Monitor beobachtend vor. Während sie und ihre Tochter, Schwiegersohn und Ehemann sich leckere Fleischbrocken in einem Fonduetopf
zubereiteten und später in fröhlicher Stimmung zusammen Geschenke auspackten, würde er ihnen über den Bildschirm zuprosten müssen, ohne dass sie es überhaupt bemerkten.
Vielleicht war er auch dazu verdammt, irgendwo am Heiligen Abend einem für ihn nicht sehr befriedigenden Job nachzugehen, weil sich sonst niemand dazu
bereit erklärt hatte. Doch sie beobachtete auch aus dem Augenwinkel immer wieder ihren Mann, um herauszufinden, ob sie wohl an diesen Tagen wieder die Rollen tauschen würden.
Manchmal wusste sie jedoch nicht mehr, wen sie nun vor sich hatte. Vorsorglicher Weise kaufte sie in den Tagen vor Weihnachten dann die Geschenke in doppelter Ausführung,
damit sich später keiner der Beiden vernachlässigt fühlte.
Die Schwierigkeit, die beiden Männer auseinander zu halten, bestand darin, dass sie sie mit
ihren Trinkgewohnheiten verwirrten. Da sie sich nicht traute, das Thema bei ihnen anzusprechen, ließ sie einfach alles so laufen, bis sich ihr Nervenkostüm wieder beruhigte
und ihre Gedanken sich von selbst wieder weitgehend ordneten.
Es war für sie eine sehr anstrengende Zeit, und nach einigen Wochen musste sie über ihre
damaligen Gedankengänge selber ein wenig lächeln. Jedoch waren ihr derartige Kapriolen so unheimlich, dass sie immer wieder vor Hilflosigkeit apathisch vor sich hin weinte,
wenn es niemand sah.