Sie hatte sich in der Ecke des gerade neu angeschafften dunkelgrauen Sofas zusammengekauert wieder gefunden. Ein halb
geleertes Weinglas mit einem fruchtigen Roten stand vor ihr auf dem Tisch. Ihre Augenlieder ließen sich nur zu einem kleinen Schlitz öffnen, um dieses Szenario realisieren zu
können. Ihr Blick wanderte durch das kleine Zimmer, die Stimmen suchend, die sie aus ihrem Schlaf gerissen hatten.
Das Notebook, seit geraumer Zeit ihr
Kommunikationsgerät und wichtigstes Instrument für Kontakte zur Außenwelt, zeigte die zuletzt erhaltene E-Mail an. Langsam kehrte ihre Erinnerung zurück, die Stimmen kamen aus
dem kleinen Stereogerät, das eine Leihgabe ihres Bruders zu ihrem Einzug war.
Auf ihrer Armbanduhr war es zehn nach eins, sie verbrachte jetzt ganze 2
Stunden in der Ecke der Sitzgruppe, ihre Arme um die Beine geschlungen, um sich herum verteilt vom Weinen noch feuchte Papiertaschentücher.
In den
Worten, die nun ganz deutlich zu ihr herüber drangen, lag eine spürbare Erleichterung. Sie ist wieder da, sie kommt zurück.“ Der Wein, von dem sie allerdings noch nie viel
vertragen konnte, hatte sie für genau 120 Minuten aus ihrem Schockzustand in ein vorübergehendes wohltuendes Vergessen getaucht. Um so schlimmer schlug ihr jetzt erneut der
Grund ihres Absturzes entgegen. Die erhaltene Nachricht, die bei ihr Entsetzen, Empörung und sogar Hysterie emporschlagen ließ, sprang ihr vom Bildschirm direkt in die vor
Müdigkeit brennenden Augen.
Erneut versuchte sie, den Stimmen ein Gesicht zu geben, eine authentische Person dahinter zu sehen. Sorgte sich tatsächlich
jemand um sie? Und wie war es möglich, dass man wusste, dass sie wieder erwacht war? Wollten die Stimmen sie beeinflussen, weil sie dachten, sie würde sich etwas antun? Ja,
genau das musste es sein. Für sie gab es keinen Zweifel, aus diesem Grund wollte sie Klarheit schaffen. Sich auf irgendeine Art aus dem Leben zu schleichen, war ihr bisher
noch nicht in den Sinn gekommen. "Keine Sorge, ich bin nur eingeschlafen, der Wein…“, tippte sie in den Laptop ein, ohne tatsächlich zu wissen, an wen diese Antwort adressiert
war. Dann trank sie das Glas leer.
Sicher hatte sie zu wenig gegessen, denn sie schwanke auf dem Weg ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Ein paar
Lichter von der Straße tanzten an der Schlafzimmerdecke und formten für einen Moment einige Figuren, als sie sich ins Bett fallen ließ.
Die
zurückliegenden Stunden zogen noch einmal vorüber. In der Vergangenheit gab es eigentlich kein hysterisches Verhalten ihrerseits, in den letzten Wochen war jedoch die
Vorstellung, die gewonnene Aufmerksamkeit wieder zu verlieren, einer Horrorvision gleichgekommen. Auch wenn es kitschig klingen mochte, ihr Leben erschien ihr wie ein
Regenbogen, den sie hinaufgeklettert war und auf dessen höchster Stufe sie sich nun befand, mitten in seiner schönsten Farbenvielfalt.
Sie hatte sich
geöffnet wie nie zuvor, und zum Glück wurde ihr dieses blinde Vertrauen nicht zum Verhängnis. Der aufheulende Motor eines vorbeifahrenden Autos holte sie aus ihrer Grübelei.
Dann warf sie noch einen kurzen Blick auf das neben ihr liegende Foto und schlief mit dem Gedanken ein, ob es eine Antwort am nächsten Tag geben würde oder ob alle Fragen
unbeantwortet blieben. An diesem Tag hatte sie ihm zum letzten Mal geschrieben.
Dass dies der Anfang einer sonderbaren und gefährlichen Odyssee war,
bemerkte sie nicht.