Warum Pfefferminztee rot ist
Alles fing damit an, dass ich eines Morgens um
4.00 Uhr Schmerzen im Oberbauch und der rechten Bauchseite verspürte. Heftige Übelkeit zwang mich zum sofortigen Aufsuchen der Toilette. Völlig ohne Vorwarnung hatte es mich
erwischt. Auf der Keramik sitzend und einen kleinen Eimer vor mein Gesicht haltend, füllte ich diesen mit dem übrigen Mittagsinhalt und Abendbrot, noch gut zu erkennen, worum
es sich da handelte. Meine Vermutung ging in die Richtung einer Magen-Darm Erkrankung, doch ich wartete vergeblich auf die typisch dünnflüssige explosionsartige Ausschüttung
ins sichere Becken.
Seltsam, dachte ich noch und begab mich von Schmerzen gepeinigt auf das Wohnzimmersofa, um dem Partner nicht auch noch den
Nachtschlaft zu rauben. Zur Vorsicht postierte ich noch das Eimerchen neben mich und kuschelte mich in Selbstmitleid versunken in eine Wolldecke. Was hatte ich mir da nur
eingefangen? Und wie das immer so ist und der Teufel es will, war es Samstag Früh und Dr. Hausarzt im wohlverdienten Wochenende. Die Übelkeit hatte sich glücklicherweise
verflüchtigt.
Also siehste, doch nicht so schlimm, dachte ich noch. Der schmerzende Bauch versaute mir jedoch weiterhin den Tag und die Nacht, und ein
montäglicher Arztbesuch wurde unumgänglich. Doch hatte ich nicht einkalkuliert, dass mein so sehr geliebter Doc (und das ist nicht ironisch gemeint)seinen Dienst erst am
Nachmittag antreten würde. Der Terminkalender der beiden anderen Ärzte der Gemeinschaftspraxis waren bis zum Mittag ausgebucht. Enttäuscht trollte ich mich davon mit dem
festen Willen, es am Nachmittag erneut zu versuchen. Mein körperliches Missempfinden wurde jedoch so groß, dass es mich antriebslos weiter an das Sofa fesselte. So vergingen
dann die Tage bis zum Freitag, an dem ich sowieso einen Termin bei meinem Rheumatologen haben sollte.
Die Schmerzen hatten sich gegeben, doch des
Doktors Ultraschall-Diagnose traf mich wie ein Schlag mit der Keule. „Ein dicker Stein in der Galle, geht garantiert nicht von selber ab.“ Ach du Sch…, dachte ich, damit hatte
ich nun überhaupt nicht gerechnet. Des Doktors sanfte Worte holten mich aus einem Nebel zurück in die nackte Realität. „Kann zu gefährlichen Entzündungen führen, der Stein
kann den Gallengang blockieren, was wiederum zu entsetzlichen Koliken führt.“
Ich fiel in mich zusammen, das musste der Doc doch spüren. Bitte jetzt
bloß keine OP. „Ohne Operation keine Chance, ihn loszuwerden.“ Meine so große Sympathie für den sonst so liebevollen Arzt bekam einen haarfeinen Riss, als er mir weitere
Risiken des Steins in meiner Galle erklärte. Niedergeschmettert sah ich mich hilflos in einem OP Saal liegen, die Hände fixiert. Im gleißenden Licht der riesigen Lampen
schiebt sich das vermummte Gesicht eines Chirurgen, der bereits sein mörderisches Skalpell meinem noch unbetäubten Bauch nähert und hämisch grinst.
Wieder holte mich des Doc´s Stimme aus meinen blutigen Vorstellungen und rettet mich vor den masochistischen Praktiken eines Mediziners. „Aber ist das denn akut?“, versuchte
ich dem guten Mann ein deutliches Nein zu entlocken.“ „Vielleicht nicht sofort, aber garantiert wieder, früher oder später.“
Schluss, aus Doc. Für heute
reichte es, und mit hängendem Kopf fuhr ich heim.
Nur ein leichtes Ziehen im Oberbauch erinnerte mich noch an die qualvollen Stunden, verbot ich mir
doch konsequent alle fetten Speisen und Genussmittel, die das Leben so angenehm machen konnten. Spaghetti Eis, das ich im Sommer so liebte und Käsesahnetorte gehörten fortan
zu den Feinden meiner Gallenblase. Bei der Grillpartie hielt ich mich an Brot und Nudelsalat mit Tomate, Gurke und einem Tropfen Öl, höchstens noch mit etwas Maggi verfeinert,
nur ja keine scharfen Gewürze.
Ich machte einen groben Fehler und bediente mich meines Diätsalates, während sich die Grillgesellschaft über Würstchen,
Kotelette und Nudelsalat mit Majo hermachte.
„Machst du Diät?“ Ich schreckte zusammen bei der Frage meiner Freundin. „Äh, ja, äh nein“, stotterte ich.
Da ich zum Lügen nicht tauge, gab ich nun Anlass zu einer regen Diskussion. „Ich hab`s mit der Galle. Stein,“ antwortete ich kurz und kleinlaut, in der Hoffnung nicht weiter
im Focus zu stehen. Aber nun war mein gefährdetes Organ ein gefundenes Fressen für meine schon von der Gallenblase entledigten Grillfreundinnen. „Da kannst du machen was du
willst, die nächste Kolik kommt auch so. Melde dich besser direkt zur Gallenoperation an, raus damit. Alles andere ist kalter Kaffee.“
Kalter Kaffee,
dachte ich wütend. Eigentlich sollte ich sie ja hassen für ihre Worte, und sowas nennt sich nun Freundin. Meine Blässe schien ihnen nicht aufgefallen zu sein. Ich starrte vor
mich hin und nahm ihre Stimmen nur wie durch Watte wahr.
„Platzende Gallenblase, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Gallenblasenkrebs, Entzündungen des
Bauchfelles, und, und, und.“ Nichts Neues für mich, wusste ich doch schon alles darüber vom Netdoktor.
Zwei Tage später legte ich mein Schicksal in die
Hand meines Hausarztes. Doch da Dr. Haus mal wieder Nachmittagsdienst schieben würde, nahm ich wegen der Dringlichkeit die neue Ärztin in Augenschein. Frau Doktor war sehr
ambitioniert und stellte mir ebenfalls ohne Umschweife eine OP in Aussicht. Mit der Einweisung ins Krankenhaus holte ich mir noch eine dritte Meinung bei dem zuständigen
Chirurgen ein, um vielleicht doch nicht auf dem OP Tisch landen zu müssen. Aber alle schienen sich gegen mich verschworen zu haben. Fünf Minuten später verließ ich mit einem
OP Termin auch diese heimische Koryphäe. Die blutige Schlacht war nicht mehr abzuwenden.
Zwei Wochen sollten vergehen, dann Gallenblase auf Wiedersehen.
Die Aussicht, wieder allen verbotenen Genüssen frönen zu können, stimmten mich milde auf meine Freundinnen, musste ich ihnen wohl am Ende vielleicht noch dankbar sein.
Allerdings behielt ich es mir vor, sie als kleinen Racheakt nicht von meinem bevorstehenden Krankenhausaufenthalt in Kenntnis zu setzen und sie vor vollendete Tatsachen zu
stellen.
Vorsorglich, denn man konnte ja nie wissen, schrieb ich eine letzte To do Liste mit allen Institutionen und Privatleuten auf einen großen
Zettel, also eine Art Testament, bei denen ich Verträge oder Termine vereinbart hatte, mit dem Vermerk, diese im Falle eines Falles zu kündigen oder abzusagen. Meine Tochter
sollte mein Lebenswerk erhalten, stapelweise selbst gemalte Bilder, die niemand haben wollte, und Keilrahmenkunst, die in Kleiderschränken unbeachtet herumstand. Um meine
E-Mails, die noch so einige sehr private und zurückliegende Konversationen enthielten, wollte ich mich später kümmern. Aber warum sollte ich das eigentlich tun? Sie waren ein
Teil meines Lebens, ein manchmal tragisches, aber in mancher Hinsicht auch ein witzig, romantisches Kapitel. An Letzteres erinnerte ich mich gern und es gab keinen Grund,
nicht dazu zu stehen.
Pünktlich zum angegebenen Termin fand ich mich zu Vorbesprechungen und Aufklärungsgesprächen in der Klinik
ein. „Frau Bulldog, sind sie zusatzversichert?“ Abgesehen davon, dass dieses nicht mein mir seit 35 Jahren zugedachter Nachname war und ich meines Erachtens auch nicht wie
eine Bulldogge aussah, war die Dame an der Zentralambulanz nicht gerade in bester Stimmung. Von so viel Autorität eingeschüchtert bejate ich ihre Frage mit dem Zusatz, dass
ich ja zusatzversichert war, aber bitte nur ein Zweibettzimmer beanspruchen wollte, allerdings ohne Chefarztbehandlung als Wahlleistung (was sich wiederrum als Fehler
meinerseits herausstellen sollte), denn die Dame schien sehr enttäuscht von meiner Entscheidung. Ihr Gesichtsausdruck ähnelte dem einer beleidigten Matrone, und sie händigte
mir mit einem kurzen „Bitteschön“ meine Patientenakte aus, um mich damit in die nächste Abteilung zu navigieren.
4 Stunden später waren alle notwendigen
Unterschriften gegeben, die Narkose erörtert, die eventuellen Risiken besprochen. Die Chirurgin schilderte mir temporeich, denn es war mittlerweile Mittag geworden, die
Operationsmethode, die sich als so harmlos herausstellte, als würde sie selbst der Pförtner durchführen können. Trotzdem schwebte meine Angst wie eine riesige, nebelige Wolke
in meinem Kopf herum, ich könnte A) meine Parkzeit um zehn Minuten überschritten haben, und B) einen gerade in der Ausbildung steckenden Jungchirurgen an mir herumschnippeln
lassen müssen, denn ich hatte ja Wahlleistung 2-Bett Zimmer ohne Chefarzt…Aber lassen wir das.
Nachdem man mir versicherte, dass ich mein so
unbedeutendes, aber von mir so gern gelebtes Leben in die Hände eines Oberarztes, schlimmstenfalls aber in die des Assistenten legen würde, war meine Panik auf 50 %
zurückgegangen, und ich beschloss, auch dem letzten Glied in der Ärzteschaft eine Chance zu geben und dem mir unbekannten Wesen in Weiß zu vertrauen. Nach einem schönen
(letzten?) Wochenende mit Tochter und Schwiegersohn, packte ich am Vorabend meinen Koffer für eine ganze Woche.
Im Normalfall war die Sache mit der
Galle in zwei Tagen gegessen, aber man kann ja nie wissen, und es könnte ja…Schwachsinn, denke ich mir. Mach dich jetzt nicht ganz Banane. Aber mit wem sollte ich nun meine
Riesenangst teilen? Mit dem Partner? Wohl kaum. Meine Laune sank stetig. Krampfhaft versuchte ich, an den tröstenden Witz meines wirklich lieben Schwiegersohnes zu denken, der
mich an die im Krankenhaus üblichen Engelhemdchen, sexy Netzslips und Trombosestrümpfe, die allerdings ohne Strapse zu tragen waren, mit einem Augenzwinkern erinnerte. Nein,
ich spürte nicht das kleinste Anzeichen eines Grinsens in meinem Gesicht, der Aufheiterungsversuch war fehlgeschlagen. Dennoch fand ich in den Schlaf, Dank eines
nervenberuhigenden Medikamentes, das ich seit einigen Jahren kurz vor dem Schlafengehen einnehmen musste, da ich andernfalls bei der Einnahme am Tage zu einem taumelnd
lallenden Etwas mutieren würde.
Mit stoischer Ruhe und dem Unausweichlichen mutig ins Auge sehend, fand ich mich pünktlich um 7.00 Uhr am anderen Morgen
(natürlich 10 Minuten früher, denn es konnte ja noch was dazwischenkommen) am I-Punkt, dem Treffpunkt für alle, die an diesem Tage unters Messer kommen sollten, ein.
Meine Gelassenheit bekam jedoch einen gehörigen Knacks, hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, als erste Patientin auf der Schlachtbank zu landen. Aha,
zuerst die Beruhigungspille, dann ab in die Krankenhausdessous, ein kurzer Abschied vom Ehegatten, rauf auf die Pritsche und ab ging es in hohem Tempo durch mir unbekannte
gruselige Flure.
Nun überschlugen sich wieder meine Gedanken. Die Fahrerinnen meines Bettes wechselten geschlagene dreimal. Die Vorstellung eines
medizinisch weitergebildeten Pförtners, der sich an meinem Unterleib zu schaffen machte, ging mir nicht aus dem Kopf.
Wann komme ich an? Meine Panik
kletterte nun wieder auf 100 %, Schwester Arzu, Nicole oder Julia sprachen mir Mut zu und versuchten, mich zu beruhigen. Eine von ihnen berichtete mir sogar von ihrer eigenen
Gallenoperation und dass ich später darüber lachen würde. Wie denn, wenn ich vielleicht nicht mehr...?
Meine Beruhigungspille zeigte keinerlei Wirkung.
Wahrscheinlich hatte ich sie viel zu spät eingenommen.
Dann endlich war ich am Ziel. Unweigerlich befand ich mich in der Sachsen Klinik, meiner
Lieblingsarztsendung. Große Scheinwerfer schwebten über mir, grüne Damen umsorgten mich mit Kabeln, Zugängen und was es sonst noch so anzubringen gab. Mein Engelhemd war ich
fürs Erste los, und eine Narkoseärztin sprach sehr menschlich beruhigend auf mich ein. Doch irgendwas schien nicht zu stimmen. War Dr. Heilmann zu spät dran?
Die grüne Dame, die noch gerade so freundlich mit mir gesprochen hatte, hielt mir, immer noch freundlich ein Formular unter die Nase. Dann erklärte sie mir den Grund
der Aufregung im Hintergrund. Ich hatte bei der Narkoseärztin Tage zuvor meine Unterschrift nicht unter die Einwilligung, sondern unter die Ablehnung der Narkose gesetzt. Erst
in letzter Minute war der grünen Dame dieses aufgefallen, weder ich, noch mehrere Krankenhausangestellten, die dieses Formular zuvor überprüften, hatten dieses Versehen
bemerkt. Und bevor ich die erlösende Dosis Schlafmittel erhalten sollte, wurde mein schon an Strippen gelegter Oberkörper noch einmal aufgerichtet. Während ich mit zittriger
Hand meine Unterschrift an die richtige Stelle setzte, erschien der herbeigerufene Chefarzt. „Alles Okay, Herr Doktor, die Patientin hat unterschrieben. Es kann
losgehen.“
Ich bekomme noch mit, dass sich der Doc verabschiedet. „So, jetzt ein kleiner Piks, und sie schlafen gleich.“ Das will ich doch hoffen,
dachte ich wieder ein wenig panisch.
Es gab noch einen Wangenstreichler von der netten Schwester, dann wurde mir schwindelig, ich hatte keine Angst
mehr. Was ist das für ein Stoff? Gebt mir mehr davon, war mein letzter Gedanke, dann muss ich eingeschlafen sein.
Langsam, ganz langsam und
seltsamerweise ohne Schmerzen, wachte ich auf. Ich lebte, anscheinend gab es kein „weg vom Tisch“, wie es so oft in der Sachsen Klinik…Aber lassen wir das. Und ja, ich war
glücklich, dass ich nicht bei vollem Bewusstsein operiert worden war. Aha, die nette Schwester kümmerte sich um mich. Hans-Peter hatte offenbar heute frei. „Alles gut, Frau
Bugdoll“, versicherte sie mir.
Natürlich, daran hatte ich keinen Moment gezweifelt. Und sie kannte meinen richtigen Namen, was ich ihr hoch anrechnete.
Der Service schien zu funktionieren. Das lag wohl daran, dass ich eben Wahlleistung 2-Bett… Noch bevor ich den Gedanken zu Ende bringen konnte, setzte
sich mein Bett in Bewegung. Na, das fluppt ja alles wie von selbst, dachte ich weiter. Die Flure sahen nun nicht mehr bedrohlich und angsteinflößend aus. Ja, ich lächelte
sogar alle Leute an, die mitleidig auf mich herabschauten und schnell Platz für die rasante Schwester mit ihrem Gefährt machten. Mit ein wenig Scham dachte ich an die
peinliche Vorstellung mit der Unterschrift im OP. Ob sie sich wohl noch über mich amüsiert hatten? Und wenn schon. Hauptsache das Ding war raus.
Donnerwetter, auch das funktionierte ohne Probleme. Mein Zimmer für zwei Tage war tatsächlich nur für zwei Betten bestimmt. Mehr hätten auch beim besten Willen nicht
hineingepasst. Zwei Stühle, ein Tisch, ein neues Bad, alles vom Feinsten. Zu meiner Freude erblickte ich ein großes Bild eines meiner Lieblingskünstler, Friedensreich
Hundertwasser, an der Wand. Ein Blumenstrauß, wie angepriesen für die Wahlleistung 2-Bett Zimmer ohne, zierte mein Beistelltischen. Ein Mini-Mini Bildschirmchen gehörte mir
allein. Ich schaute angesichts solchem Luxus großzügig darüber hinweg, dass der Blumenstrauß aus einer einzigen Margerite bestand.
Großartig, mein
Koffer und alle meine Sachen, die ich in einer Plastiktüte verstauen musste, waren im Schrank an meiner Seite untergebracht, was mir wiederum die Fahrerin meines Bettes stolz
verkündete. „Gleich gibt es Mittagessen“, rief sie mir noch beim Hinausgehen zu, dann duselte ich noch einmal kurz weg, bis eine mir unbekannte Schwester ein Tablett aufs
Tischen stellte.
Toll, alles da. Trinken, Essen, was will man mehr. Langsam, ohne Schmerzen richtete ich mich etwas auf und sah zum ersten Mal meine
Bettnachbarin. Wie ich später erfuhr, hatte die ältere Dame einen Oberschenkelhalsbruch erlitten. Freundlich grüßte ich ihr von meinem Luxusplatz aus zu. Dann widmete ich mich
meinem Wahlleistungs- 2-Bett Zimmer-Mittagsmal, denn mein Magen knurrte wie ein Wolf. Zum ersten Mal seit Wochen nahm ich wieder etwas anderes als Brötchen mit Marmelade zu
mir. Ja, man konnte sagen, ich war glücklich.
Das Schlimmste hatte ich also hinter mir, wenn es nicht noch Komplikationen geben würde, denn man weiß ja
nie… Mit Pantoffeln, die eine nette Schwester mir aus meinem Koffer reichte, durfte ich ganz vorsichtig und mich an diversen Stangen hangelnd ins Bad bewegen. Klappt ja alles
wunderbar, dachte ich. Doch eine Woge des Schwindelns machte mich darauf aufmerksam, dass ich die OP doch nicht innerhalb einer Stunde verdaut hatte. So verbrachte ich den
Nachmittag mit Kaffee und einem Stück Kuchen in meinem Wahlleistungslager, mich von den Anstrengungen des Vormittags erholend. Am Abend würde ich meine Lieblings-Radiosendung
hören können, dank der Multi-.Funktions-Tastatur, mit der auch ein Schwesternnotruf, TV, DVD, Internet, Leselampe und Telefon zu bedienen waren.
Mein
Ehemann traf mich in bester Laune an, ununterbrochen redend und aufgedreht. Sichtlich erleichtert über den guten Ausgang der Aktion leerte er meinen Koffer und folgte meinen
Anordnungen bezüglich meiner Wäschestücke und Badutensilien anstandslos. Ich freute mich über Lesestoff, den ich nur bei Arztbesuchen durchzublättern pflegte. Meinen Bericht
über den Oberarzt, der mich scheinbar operiert hatte, musste ich noch schnell loswerden, bevor mein Gatte seinen Besuch bei mir beendete, denn gleich würde es ja Abendbrot
geben. Dieses durfte ich mir am frühen Morgen vor der Operation noch selbst zusammenstellen. Ich wählte Brot, Käse, Wurst und Pfefferminztee, was man im Krankenhaus halt so am
Abend eben trank. Hibiskustee war mir ein Greuel.
Feierlich hob ich den Plastikdeckel von meinem Wahlleistungsteller. Spitze, alles nach Plan, ein
hervorragender Service. Jetzt nur noch den Teebeutel in die Tasse tunken…Bäh, es roch nach…
Irritiert las ich die Abendkarte, die auf dem Tablett unter
dem Teller lag. Hm, Pfefferminztee stand dort klar und deutlich. Hatte die Narkose jetzt doch eine Nebenwirkung und ich eine Wahrnehmungsstörung? Oder warum ist Pfefferminztee
rot?
Todmüde, und doch glücklich meine Musiksendung verfolgend, kam mir die Idee, ein Krankenhaustagebuch zu verfassen. Und so schrieb ich meine
Erlebnisse, die Guten, wie die Schlechten in mein Skizzenbuch.
Alles lief gut und nach Plan, bis auf den Tee. Na ja, man durfte ja nicht empfindlich
sein, andere Menschen hatten nicht einmal Hibiskustee. Flüchtlinge mussten auf Bahnhofsböden, im Freien oder in Massenunterkünften ausharren, starben qualvoll in Lastwagen
oder Booten. Ich hatte ein sauberes Bett, alles, was ich brauchte und war jetzt gesund.
In der Nacht meldete sich meine frisch operierte Körperregion.
Es prickelte und spannte, der Bauch fühlte sich an wie ein aufgeblähter Ballon. Die Schmerzmittel verloren so langsam ihre Wirkung. Meine Versuche, doch noch in den Schlaf zu
kommen, wurden durch lautes Rufen meiner bemitleidenswerten Bettnachbarin durchkreuzt. Zusätzlich machte die alte Dame durch festes Schlagen ihres Haltegriffes an die
Bettstange auf sich aufmerksam.
Meine tröstenden Worte, dass sie nicht allein sei, verhallten ungehört im Raum, denn der weinenden und sich ihrer
Hilflosigkeit bewussten Frau war auch noch ihr Hörvermögen abhandengekommen, und die Tastatur mit der Notruftaste vermochte sie nicht zu bedienen.
Die
Nachtschwester hatte ein Herz und half der von Schlaflosigkeit geplagten Patientin mit einem Schlafmittel, doch noch Ruhe zu finden. So schön der Tag ausgegangen war, umso
unruhiger wurde die Nacht. Die alte Dame schlief den Schlaf der Gerechten. Durch ihre Schlafgeräusche, zu denen sie ja nichts konnte, war ich praktisch chancenlos, nur eine
Minute in tiefe Traumlosigkeit zu verfallen.
Erneute Rufe nach der Nachtschwester ließen mich Stunden später noch einmal aufschrecken. Jetzt jedoch
entschloss ich mich, selber gleich die Schwesterntaste zu drücken, damit der armen Dame geholfen werden konnte. Auf ein bisschen Schlaf hoffend und mit Kopfhörern dem
mitternächtlichen Musikgprogramm lauschend, wartete ich ein wenig genervt auf den nahenden Morgen.
Um Punkt sieben schob sich eine Blase von 8 weiß
gekleideten Herren in das winzige Zimmer. Noch vor dem Frühstück eine Visite? Wieso das jetzt? Ich hatte doch noch die Krankenhausdessous an meinem mit Jod oder so was
ähnlichem eingeschmierten Körper, meine kurzen Haare standen zu Berge und ich hatte mir nicht einmal die Zähne geputzt. Verdammt, du hast bestimmt Augenringe, und die jungen
Kerle, was denken die bloß?
Am Gesichtsausdruck der jungen Ärzte, Studenten, Pförtnern und was weiß ich noch alles, war jedoch keinerlei Reaktion
auszumachen. War ein kleines Lächeln am Morgen denn nicht im Wahlleistungs-2- Bett-Zimmer ohne enthalten? Später würde ich mir gleich den Vertrag zwischen mir und dem
Krankenhaus genauer durchlesen. Endlich schenkte mir, vermutlich der Oberarzt, seine Aufmerksamkeit, nachdem er der alten Dame zu verstehen gab, dass sie jetzt 6 Wochen nicht
ihr gebrochenes Bein belasten könne, was die alte Dame wohl kaum zu trösten vermochte in ihrer Situation. Ob er sich meinen Bauch ansehen dürfe, was ich natürlich nicht
verneinen konnte. Gefühlte 30 Sekunden später war auch der Blick auf meine vier im Unterleib befindlichen nur Zentimeter großen Bauchschnitte getan. Der kleine Beutel an der
rechten Wunde tat wohl seinen Dienst und fing durch einen etwa 15 cm langen Plastikschlauch das Wundsekret auf.
Der Doc war vollends zufrieden mit mir.
Sah ich da doch gerade ein kleines Schmunzeln auf des Doktors Züge? „Sieht gut aus. Wenn es so bleibt, können sie morgen nach Hause.“ Ich strahlte über so viel Zuversicht und
war ein paar Sekunden später wieder allein mit meiner Bettnachbarin, die von mir wissen wollte, was der denn der Doktor zu ihr gesagt hatte.
Ein schöner
Tag beginnt mit einem guten Wahlleistungs- 2-Bett Frühstück. Das hatte ich mir nach so einer Nacht redlich verdient. Dankbar nahm ich auch die Schmerztabletten an, die am
Morgen um 6.00 Uhr bei meiner Medikamentenration lagen.
Nach der Morgentoilette versorgte ein Pfleger meine Wunden. Der Schlauch wurde entfernt, und ich
durfte nun wieder in Privatkleidung schlüpfen. Alle Angst und auch der Frust der Nacht waren vergessen. Aber ein Krankenhaus wäre nicht ein Krankenhaus, wenn da nicht das
Wahlleistungs…
Auf des Pflegers Rat hin, drehte ich meine Runden auf den Fluren der Station. Schwestern und Pfleger gingen ihrer Arbeit nach. Aus mir
nicht bekannten Gründen verlegte man mich kurzerhand in ein anderes Zimmer. Schnell wurde es Mittag, und mein Wahlleistungsessen würde mich über den unfreiwilligen
Zimmerwechsel sicher hinweg trösten. Doch was war heute los? Hatte das Personal denn so viel zu tun, dass es erst so spät Mittagessen für Zimmer 110 geben sollte?
Irritiert wendete ich mich an die Damen im Schwesternzimmer. Wieso? Die Mittagszeit sei doch schon vorbei, und alle hätten ihr Mittagessen…Nichts Gutes
ahnend fühlte ich den Ärger in mir aufsteigen. In meinem langen Leben hatte ich jedoch gelernt, in solchen Dingen die Ruhe zu bewahren. Bemüht, mich und die alte Dame dennoch
zufriedenzustellen, ließ ich den Schwestern Zeit, sich um etwas Essbares zu kümmern. Wieder hatte ich einen Fehler begangen. Zu spät hatte ich mich wegen der Mahlzeit bei den
Schwestern gemeldet. Die Küche war dicht, das Essen wurde von einem Caterer geliefert, und unsere Portionen waren ich weiß nicht wo gelandet. Mit einem Rest Pudding, Kuchen
und Broten mit Wurst servierte man uns das, was noch auf der Station aufzutreiben war.
Mit dickem Hals, aber nicht auf Krawall gebürstet, schluckte ich
die Pille und ließ bis auf den Pudding alles auf dem Tablett zurück. Dem Spruch der Schwester hatte ich nicht entgegenzusetzen. Das wir alle nur Menschen seien, ja, das
akzeptierte ich, aber auch Menschen mit Hunger, Wahlleistungsessen und von Operation und durchwachter Nacht geschwächtem Körper. Ich war bedient. Natürlich hätte ich mich in
der Kantine versorgen können. Stattdessen setzte ich mich zum Runterkommen in die Vorhalle des Krankenhauses, denn der Appetit war mir vergangen.
Das
Kommen und Gehen der Menschen lenkte mich von dem ärgerlichen Vorfall ab. Auf Station war mittlerweile Schichtwechsel. Andere Schwestern und Pfleger versorgten nun die
Patienten. Meine neue Zimmermitbewohnerin war sehr freundlich. Die Mittagessen Geschichte quittierte auch sie mit einem Kopfschütteln. Doch wie klein war dieses Ärgernis,
gegenüber den Krankheiten und Schicksalen, denen man hier begegnete.
Bei meinen weiteren Spaziergängen auf den Stationsfluren bekam ich einen Einblick
in den Arbeitsalltag der Schwestern und Pfleger. Manch eine legte wohl Kilometer um Kilometer zurück, Pfannen hin und hertragend, Patienten und Wunden säubernd, ein
freundliches Wort auf den Lippen für verzweifelte Kranke. Dann geschah doch noch, womit ich nicht gerechnet hatte. Der Chefarzt erschien mit 3 weißgekittelten Herren, gab mir
die Hand und eröffnete mir, dass ich am anderen Tag das Krankenhaus verlassen könnte, wenn die Blutwerte in Ordnung seien.
Die Aussicht auf zu Hause hob
meine Stimmung gewaltig. Mit verhaltener Euphorie nahm ich allerdings das Abendessen entgegen, das ich ebenfalls kurz vor der Einfahrt in den OP Saal bestellen musste.
Schnitzel, Frikadellen, Kartoffelsalat. Ob die Bottroper Platte mit ihrem vielversprechenden Namen das Mittagessen toppen konnte? Gespannt nahm ich die Haube ab. Enttäuscht
über den Anblick, aber vom Hunger geplagt, aß ich die Frikadellchen und Schnitzelchen aus der Fertigpackung von einem bekannten Discounter, probierte den Kartoffelsalat aus
dem Plastikbecher und ließ die unappetitlichen Mettwurststücke sowie den Salat auf dem Teller zurück.
Ich wollte nach Hause. Von nun an konnte ich die
Patienten verstehen, die sich das Essen von ihren Liebsten mitbringen ließen. Am Abend teilte ich mit meiner Zimmergenossin das Fernsehprogramm, „Tierarzt Dr. Mertens“ und „In
aller Freundschaft“ munterten mich wieder auf. Was sollte jetzt noch passieren? Ich bestellte bei der Spätschicht eine Schlaftablette und schlief bis zum nächsten Morgen
durch. Die Morgenvisite erschien nur noch zu viert, ließ mich aber Links liegen. Eine Schwester teilte mir fröhlich meine Entlassung mit und überreichte mir die
Entlassungspapiere.
Entspannt und zufrieden packte ich meinen Koffer und bat meine Schwägerin telefonisch, mich abzuholen. Noch einmal kam mir der
gestrige Tag in den Sinn, und mein fester Wille, keine gute Beurteilung, geschweige denn Trinkgeld zu geben. Doch mein Zorn war verraucht. Jede Arbeit ist des Lohnes wert,
dachte ich, die Pfannen säubernde, eilige Schwester vor meinem geistigen Auge.
Zum Schluss füllte ich den obligatorischen Fragebogen aus, und musste
feststellen, dass ich ein gutes, sehr gutes Urteil abgegeben hatte. Ich verabschiedete mich von der Schwester in ihrem Zimmer, knubbelte einen 20 Euro Schein in das
Sparschwein , das sie in meine Richtung schob und zog mit meinem Koffer von Dannen. Ich beklagte mich nicht weiter über das entgangene Mittagsmahl, denn wir sind ja alle nur
Menschen.